Rucksack-Projekt - Ein Konzept zur Sprachförderung und Elternbildung im Elementarbereich

Kontakt:

Hauptstelle RAA, Dr. Monika Springer-Geldmacher, Tiegelstraße 27, 45141 Essen, Tel.: 0201 / 8328 – 304, Fax: 0201 / 8328 – 333, Internet: www.raa.de


Inhalt:


Entwicklungsphasen der Kinder nutzen

Durch die gesamte Schullaufbahn vieler Kinder aus Zuwandererfamilien zieht sich die Feststellung, dass ihre Sprachkenntnisse in Deutsch unzureichend sind. Für den Erfolg in der Zweitsprache kommt der Erstsprache aber eine große Bedeutung zu. Verfügt ein Kind in seiner Muttersprache über ausgebildete Sprachstrukturen, so kann es auch eine Zweitsprache erfolgreich erlernen.
Die Kleinstkindforschung hat uns in Zusammenarbeit mit der Hirnforschung Erkenntnisse vermittelt, dass früh, aber nur kurzzeitig geöffnete Zeitfenster für das optimale Aufnehmen von Sprache(n) dafür sprechen, die pädagogischen Anstrengungen zu intensivieren und zwischen Familie und Bildungseinrichtung aufeinander auszurichten, um Kindern so früh wie möglich Sprache(n) zu vermitteln. Dieser Lernprozess ist nicht auf eine Sprache begrenzt. Die optimalen Lernphasen enden aber früh. So genannte Entwicklungsfenster bestimmen, welche Fähigkeiten ein Kind wann erlangt. Nach drei Jahren endet der erste Entwicklungsschub, der zweite geht bis zur Pubertät. Entscheidend für die Zukunft eines Kindes ist also, was es in den ersten Jahren erlebt, um daraus zu lernen. Verpasste Momente für den Spracherwerb beispielsweise lassen sich nur sehr schwer nachholen. Kinder brauchen also eine an Entwicklungsverläufen orientierte Gestaltung von Bildungs- und Lernmöglichkeiten. Sie benötigen für ihre Entwicklung Anregungen und Erwachsene, die sich um sie kümmern.


Methodische Vorgehensweise

Das Programm "Rucksack" geht die Förderung von Kindern im Elementarbereich mehrdimensional und systemisch an: Es berücksichtigt die Entwicklung der Kinder in Bezug auf ihre Lebenswelt und ihre Familie.
Es hat ebenso das Bildungssystem "Kindertagesstätte" und die in ihm Agierenden im Blick. Mütter, Erzieher und Erzieherinnen werden Partner für die Sprachförderung der Kinder. Rucksack zielt auf die Förderung der Muttersprachenkompetenz, auf die Förderung des Deutschen und auf die Förderung der allgemeinen kindlichen Entwicklung ab. Dabei werden die Mütter als Expertinnen für das Erlernen der Erstsprache angesprochen, nicht orientiert an ihren Defiziten, sondern an ihren Stärken. Durch Anleitung und mit Hilfe von Arbeitsmaterialien werden sie auf die Förderung der Muttersprache vorbereitet. Mütter werden so in ihrer Sozialisationskompetenz gestärkt. Sie treffen sich einmal in der Woche für zwei Stunden und machen gemeinsam Aktivitäten, die sie in der Woche mit ihren Kindern zu Hause durchführen sollen. Während dieser Treffen lernen sie den Wert von Literatur, Bilderbüchern, Liedern, den Wert des Spielens und Malens sowie der Verbindung von Sprache und Handeln für die Entwicklung ihres Kindes in der alltäglichen Beschäftigung kennen. In der Regel gehören die am Programm beteiligten Mütter der bildungsfernen Schicht an. Mit der kontinuierlichen Vermittlung des Programms über neun Monate wächst auch ihre muttersprachliche Kompetenz – ein Zuwachs, der sich unmittelbar für die Sprachentwicklung ihrer Kinder auswirkt.


Die Anbindung an die Kindertagesstätte ist sehr wichtig

und für die RAA´s eine Bedingung für die Weitergabe des Programms, denn hier soll die Förderung in der deutschen Sprache parallel zu der Arbeit mit den Müttern erfolgen. Die Kindertagesstätten verpflichten sich, das Programm der Mütter mit ihrem Konzept der Zweitsprachenvermittlung zu koordinieren. Die Erzieherinnen kennen das Programm genauso wie die Eltern und sollen möglichst parallel das Thema der Woche sprachlich in ihren Kindergartenalltag integrieren. Die Erzieherinnen werden durch die RAA mit Fortbildungsangeboten auf ihre Aufgabe vorbereitet.
Die Programme sind nicht nur Sprach- und Lernprogramme, sondern reflektieren soziokulturelle Themen aus den Erfahrungsfeldern der Migrantenfamilien, Schule, Alltag, Freizeit, Feiertage, Feste und Religion. Die soziokulturell aufbereiteten Themenfelder sind gleichzeitig Anregung für die
Kindertageseinrichtung, ihren Alltag interkulturell zu gestalten. Elternbegleiterinnen, Mütter und Erzieherinnen sind in dem Projekt Lernende und Gebende zugleich.


Der Blick über den Zaun: Das Rucksack-Projekt aus Rotterdam

Der Arbeitskreis IKEEP (Interkulturelle Erziehung im Elementar- und Primarbereich) der Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA) in NRW hat das aus den Niederlanden stammende Programm adaptiert und für den Einsatz in Deutschland übersetzt bzw. überarbeitet. Der interkulturelle und interaktive Ansatz wurde herausgearbeitet und der Lebensweltbezug für die Bedingungen in Deutschland hergestellt. Seit 1999 steht ein Materialpaket in Deutsch, Türkisch, Italienisch, Griechisch und Russisch zur
Verfügung. Die spanische Überarbeitung steht ab Herbst 2004 bereit.


Rucksackmodelle (Typen)

In NRW haben sich seit Beginn des Rucksackprojektes im Jahre 1999 zwei unterschiedliche Modelle bewährt.
In dem Modell 1 werden Mütter, die sowohl ihre Muttersprache als auch die deutsche Sprache gut beherrschen, zu Stadtteilmüttern bzw. Elternbegleiterinnen ausgebildet, die jeweils eine Müttergruppe, deren Kinder die Kindertageseinrichtung besuchen, für Sprach- und Entwicklungsaktivitäten anleiten.
In dem Modell 2 führen als Erzieherin ausgebildete Migrantinnen das Programm mit den Müttern durch. Die Elternbegleiterinnen werden durch Honorarmittel, ABM-Mittel oder ähnliche Programme finanziert.
In der Regel erfolgt die Anleitung in der Muttersprache der Teilnehmerinnen, nur in heterogenen Gruppen kann die Anleitung auch in Deutsch erfolgen mit der Empfehlung an die Mütter, die Aufgaben zu Hause in ihrer Muttersprache durchzuführen.
Die Umsetzungsstruktur des Rucksackprogramms ist abhängig von den örtlichen Bedingungen, wie z.B. den finanziellen und personellen Ressourcen. Vor diesem Hintergrund haben sich in der praktischen Umsetzung auch andere Rucksacktypen entwickelt und bewährt.
Grundsätzlich ist die Durchführung des Programms für die Dauer von 9 Monaten vorgesehen. Eine Rucksackgruppe setzt sich im Idealfall aus 7 bis 10 Müttern zusammen.


Zielsetzungen des Rucksackprogramms

  • Die Förderung von Mehrsprachigkeit bei Migrantenkindern:
    Die Wertschätzung der Muttersprache bedeutet auch Erziehung zu Respekt vor anderen Werten. Die Förderung der Erstsprache ist Voraussetzung für den Erwerb der Zweitsprache. Mehrsprachigkeit ist eine Schlüsselqualifikation für soziale und berufliche Teilhabe in dieser Gesellschaft.
  • Die Stärkung der Erziehungskompetenz:
    Die Mütter sollen als Erziehungsexpertinnen gestärkt werden und Verantwortung für Erziehung und Bildung ihrer Kinder übernehmen.
  • Die Stärkung des Selbstwertgefühls der zugewanderten Mütter und deren Kinder:
    Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl der zugewanderten Mütter werden durch das eigene Lernen und die Übernahme von Aufgaben gestärkt, und das Anknüpfen an ihre Stärken wird angeregt. Ihnen wird der Wert der vorschulischen Förderung ihrer Kinder vermittelt. Das gestärkte Selbstbewusstsein der Mütter drückt sich in einer verantwortlichen Mitarbeit und in einer Auseinandersetzung mit den Erzieherinnen über die Ziele der Einrichtung aus. Die Kontaktaufnahme zu Müttern bzw. Eltern der eigenen kulturellen Gruppe und der Mehrheitsgesellschaft wird dadurch erleichtert. Damit geht eine Stärkung in der Entwicklung der Kinder einher.
  • Die Stärkung der Interkulturellen Pädagogik und des Mehrsprachenkonzepts der Einrichtung:
    Die Einrichtung übernimmt die Verantwortung für die Entwicklung der Kinder in Bezug auf ihre Mutter- und Zweitsprache. Sie entwickelt ein Konzept für Mehrsprachigkeit und Interkulturalität. In diesem Rahmen öffnet sie sich für ein interkulturelles Team und die teilhabende Rolle der Eltern. Ein gleichbedeutender Schritt ist die Öffnung des Teams bzw. des Trägers für die Beschäftigung von muttersprachlichen Kräften in der Einrichtung.

Evaluation

In NRW sind seit Beginn des Rucksackprojektes im Jahre 1999 bis Juli 2003 insgesamt 107 "Rucksack I - Gruppen" in 19 Kommunen und Kreisen in NRW entstanden. In ihnen wurden ca. 1.200 Mütter über 9 Monate hinweg auf die spielerische Sprach- und Entwicklungsarbeit mit ihren Kindern vorbereitet. Inzwischen wird auch außerhalb von NRW, wie z.B. in Mannheim, Weinheim, Ludwigsburg, Augsburg, Kreis Oberschwaben und Lübeck mit diesem Programm gearbeitet. Alle beteiligten Kommunen bzw. Kooperationspartner haben aufgrund der guten Erfahrungen und der regen Inanspruchnahme des Projekts im zweiten Jahr ihr finanzielles Engagement erhöht. Die Erfahrungen der RAA mit der Umsetzung des Rucksackprojektes sind in die Richtlinien des Landes NRW über die Gewährung von Zuwendungen für Angebote zur Sprachförderung im Elementarbereich eingeflossen.
Das Projekt wird in einer breiten Öffentlichkeit positiv wahrgenommen. Es ist in der Zwischenzeit mit zwei Preisen ausgezeichnet worden. Im Rahmen einer formativen Evaluation in den Jahren 2000 und 2002 wurden in der Stadt Essen alle Projektbeteiligten schriftlich zu den Auswirkungen des Projektes befragt  1). Die Ergebnisse spiegeln die guten Erfahrungen aus den verschiedenen Kommunen und Kreisen wider; sie sind deshalb tendenziell auch auf andere Rucksackgruppen übertragbar.


Die wichtigsten Ergebnisse aus dieser Evaluation

  1. Verhältnis zwischen Müttern und Erzieherinnen:
    Die Mütter beurteilen das Projekt äußerst positiv. Sie beschreiben Veränderungen sowohl im Verhältnis zur Tagesstätte als auch zu ihrem Kind und innerhalb der Familie.
    Die Mehrzahl von ihnen tritt nun selbstbewusster auf und traut sich, ihre Meinung zu äußern. Von der Mehrheit der befragten Erzieherinnen wird ein größeres Interesse der beteiligten Mütter wahrgenommen. Bei fast Zweidrittel der Erzieherinnen hat das Projekt zu einem besseren Verständnis für die Situation nicht-deutschsprachiger Kinder und ihrer Familien geführt.
  2. Sprachentwicklung:
    Die Mütter wie auch die Erzieherinnen gaben an, dass die Sprachkompetenz sowohl in der Mutter- als auch in der Zweitsprache Deutsch deutlich besser geworden ist.
  3. Interaktion Mutter-Kind:
    Das Verhältnis zwischen den am Projekt teilnehmenden Müttern und ihren Kindern hat sich positiv entwickelt, was sich u. a. in häufigerer Beschäftigung mit dem Kind äußert. Die Mütter haben die Bedeutung von Sprache erkannt, d.h. Sprechen in Alltagssituationen hat einen höheren Stellenwert bekommen. Die Kinder werden jetzt an alltäglichen Dingen wie Hausarbeit oder Backen beteiligt oder gehen seither mit der Mutter einkaufen.
  4. Weitere Wirkungen:
  • Aus der Elternbildungsarbeit sind neue Aktivitäten mit Eltern/Müttern erwachsen, wie z. B.: Vorlesepaten, Sportgruppen, Gesprächskreise.
  • Bei 77 % der Mütter wurde Interesse für das Erweitern der eigenen
    Deutschkenntnisse geweckt.
  • Die Lernfreude der Kinder hat zugenommen.
  • Eltern trauen sich mehr, Ideen und Wünsche zu äußern und suchen das Gespräch.
  • Eltern werden von den Mitarbeiterinnen der Kitas stärker akzeptiert.
  • Mitarbeiterinnen der Kitas nehmen vermehrt an Fort- und Weiterbildungen zum Spracherwerb und zur interkulturellen Pädagogik teil.
  • Das eigene Sprachverhalten wird bewusster beobachtet.
  • Grundschulen nehmen eine Verbesserung in der (Sprach)entwicklung der am Programm beteiligten Kinder wahr.
  • Der anfängliche Widerstand der Kitas gegen das "verschulte" Material hat sich in positive Akzeptanz gewandelt.
  • Die Kindergartenarbeit ist für Migranteneltern transparenter geworden.

Stimmen aus der Praxis und ergänzende Programme

Einige Stimmen aus der Praxis:

  • "Vorher habe ich nicht daran gedacht, dass die frühe Förderung von Kindern so notwendig ist"
  • "...ich möchte, dass unsere Kinder einmal das gleiche Niveau erreichen wie deutsche Kinder"
  • "Vor Rucksack haben wir nur darauf geachtet, dass unsere Kinder genug essen, schlafen und trinken, jetzt achten wir mehr auf die Bedürfnisse unserer Kinder und die psychologischen Aspekte"
  • "Die Sprachkompetenz der "Rucksackkinder" wird besser"
  • "Der Kontakt zu den Müttern ist offener und intensiver geworden"

Ergänzende Programme:

  • "Griffbereit", Mütter-Kind-Gruppen für Kleinkinder von 1 bis max. 4 Jahren; anzusiedeln in Familienbildungs- und Kindertageseinrichtungen.
  • "Rucksack II" für Grundschulkinder, Eltern und Lehrer; derzeit erfolgreiche Erprobung in einigen Essener Grundschulen.

1) Stadtteilmütter-Projekt Interkulturelle Sprachförderung und Elternbildung im Elementarbereich, Teil II, Evaluationsergebnisse der Modellphase, Stadt Essen RAA/Büro für interkulturelle Arbeit, Januar 2004