Netzwerk Aussiedler

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Peter Moritz, Prof. Dr. phil. habil., M. A., Diplom-Pädagoge, Email: p.moritz@gmx.net

Seit 20 Jahren in der Spätaussiedlerarbeit und -betreuung tätig; Forschungsschwerpunkte: Medienpädagogik, Mediensoziologie; Medien- und Kommunikationswissenschaften; Jugend- und Erwachsenenbildung; zahlreiche Buchveröffentlichungen, wissenschaftliche Aufsätze und Essays.


Das Projekt im Stadtteil Hannover-Bemerode (Stadtteilzentrum KroKuS) setzt sich zum Ziel, die sprachlich-medialen Kompetenzen zugezogener Spätaussiedler durch intensive Förderung zu stärken. Diese Förderung erstreckt sich auf einen Teilnehmerkreis von 18 Spätaussiedlern im Alter ab 16 Jahren, die zum Teil erst wenige Monate in der Bundesrepublik sind. Der organisatorische Aufbau des Projekts strukturiert sich in drei qualifizierte, einander ergänzende Module einer sprachlich-medialen Förderung, die in eine fundierte Phase der Nachbereitung münden: Der Erwerb sprachlicher Kompetenzen im Bereich Ausdruck, Grammatik, und Lexik wird thematisch in relevante, die Migranten betreffende gesellschaftspolitische Themen eingewoben ("Gesellschaftskunde"). Diese beiden Komponenten wiederum werden durch PC- und internetgestützte interaktive (Sprach-) Übungen derart fundiert, dass am Ende die zusammengeführten Säulen "Sprache, Gesellschaft und Multimedia" die Herausforderungen des Alltags vorbereiten und die Integrationsfähigkeit beleben


1. Hintergrund und Ziele des Projekts

"Sprache als Schlüssel zur Integration"

Zwischen 1990 und 2000 wanderten etwa 2 Millionen Spätaussiedler in die Bundesrepublik ein, überwiegend aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Durch die Festschreibung der jährlich zu erteilenden Aufnahmebescheide hat sich die Anzahl der Zuzüge seit dem Jahre 2000 auf etwa 100.000 Personen jährlich eingependelt. Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, MdB Jochen Welt, beabsichtigt, künftig nicht nur deutschstämmige Spätaussiedler einen Sprachtest absolvieren zu lassen, sondern auch sämtliche Mitreisende, etwa die Familienangehörigen1. Der Hintergrund dieser Regelung besteht darin, dass die Deutschkenntnisse der Einreisenden zunehmend schlechter ausfallen: Zu Beginn des letzten Jahrzehnts, am Anfang der großen Rückwanderungsbewegung der deutschstämmigen Aussiedler vor allem aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, besaßen etwa siebzig Prozent der Einreisenden einen unmittelbaren Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Die meisten von ihnen wiesen mehr oder weniger befriedigende Deutschkenntnisse auf, mindestens doch in einer Dialektvariante. Dreißig Prozent der damals Zuziehenden galten als direkte Angehörige von unmittelbar Anspruchsberechtigten, beispielsweise Ehepartner oder Kinder und Enkel. Mittlerweile hat sich dieses Verhältnis ins Gegenteil verkehrt: Lediglich ein Viertel der jährlich zuwandernden Aussiedler erhält den Status eines direkt Anspruchsberechtigten. Drei Viertel der heute Einwandernden sind russischer oder anderer Herkunft und leiten ihren Anspruch auf Zuzug und deutsche Staatsangehörigkeit von der Verwandtschaft mit den unmittelbar Anspruchsberechtigten ab.
Mit Blick auf die defizitären Deutschkenntnisse sind besonders jugendliche und heranwachsende Spätaussiedler betroffen. Die Anzahl derjenigen, die noch vor der Ausreise in Familienzusammenhängen traditionell die deutsche Sprache pflegen, nimmt rapide ab. Diese Entwicklung führt zu nachhaltigen negativen Konsequenzen hinsichtlich der gesellschaftlichen Integration heranwachsender Spätaussiedler2, vor allem in die Gruppe der Gleichaltrigen. Deshalb besitzt die qualifizierte Eingliederung jugendlicher Aussiedler für die Bundesregierung "absolute Priorität": "Für mich", fasst der Aussiedlerbeauftragte Jochen Welt auch unter der Perspektive eines erhöhten Bedarfs an qualifiziertem Nachwuchs zusammen, "heißt das Schlüsselwort zur Integration: Deutschkenntnisse."3
An dieser Schnittstelle zwischen Übersiedlung und Integration in hiesige lebensweltliche Kontexte setzt unser Projekt "Netzwerk Aussiedler" im Stadtteil Hannover-Bemerode (Stadtteilzentrum KroKuS) an.


2. Theoretisch-methodischer Rahmen

Inhaltlich zielt das Projekt auf die Förderung der medialen wie sprachlichen Kompetenzen, wobei methodisch insbesondere an die handlungsorientierte Medienpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der konstruktivistischen Lerntheorie sowie der Theorie der Lernumgebungen ("learning environments") angeknüpft wird.

Zum Begriff Medienkompetenz

Lebenswelten und Medienwelten erscheinen heute mehr denn je miteinander verzahnt: von elektronisch motivierter Kommunikation über multimediale Lerntechniken bis hin zum allseits gebrauchten Handy und dem Kinderfernsehen, bei dem Programm, Werbung und außermediales Geschehen immer häufiger miteinander verschmelzen. Die Konvergenz von Lebenswelt und Medienwelt berührt die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, wie wir lernen und uns entwickeln. Die Rasanz, mit dem diese Prozesse voranschreiten, erfordert eine den Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gegenüber aufgeschlossene Medienpädagogik, die weit mehr als stereotype Handlungsanweisung oder Einführung in technische Details darstellt: Vielmehr geht es um die bewusste, aktive Teilnahme des einzelnen an gesellschaftlicher Kommunikation, also auch darum, Informationen qualitativ zu selektieren und das eigene wie das gesellschaftliche Handeln zu reflektieren – in diesem Sinne Kompetenzen zu erlangen, die als Schlüsselqualifikationen die wachsende Wissens-, Bildungs- und Handlungskluft insbesondere der im Bildungsbereich Benachteiligten zu überwinden helfen.4
Spätestens mit der Einführung des Begriffs der Medienkompetenz in die medienpädagogische Diskussion in den siebziger Jahren durch den Bielefelder Medienpädagogen Dieter Baacke kündigte sich der Wechsel von den in den fünfziger und sechziger Jahren noch weitgehend bewahrpädagogisch verhafteten Anschauungen hin zu kritisch intendierten und handlungsorientierten Konzepten der Medienpädagogik an5: Medienkompetenz als handlungsorientierte Fähigkeit verstanden, geht über rein institutionell und ziel-zweckorientiert begrenztes Denken insofern hinaus, als sie den engen Rahmen schulisch-instrumenteller Bezüge transzendiert, fördernd in lebensweltliche Kontexte eingreift und übergreifende Bildungszusammenhänge strukturiert. Im Zeichen von Globalisierung und zunehmender Mediatisierung impliziert das kommunikativ-mediale Geschehen weiterführende Sinn- und Deutungsmuster, die den Einzelnen sowohl in seiner individuellen Entwicklung als auch auf der Ebene gesellschaftlicher Interaktion bilden.6
Medienkompetenz als Teilaspekt von kommunikativer Kompetenz fügt sich in ein umfassendes Kompetenzgefüge, das sozialgeschichtlich und kulturbezogen das Bild des mündigen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt umschreibt. Diese Kompetenzen entspringen weder einem angeborenen Muster noch folgen sie einer determinierten Entwicklungslogik. Sie müssen ontogenetisch von jedem Individuum mühsam in aufreibenden Erziehungs- und Bildungsprozessen erfahren, angeeignet, erworben und immer wieder gelebt werden.

Konstruktivistische Lerntheorie

Die konstruktivistische Lerntheorie betont die Bedeutung der Konstruktion von Wissen, das nicht nur einfach vermittelt, sondern in den Köpfen der Lernenden aktualisiert und aktiviert wird7. Das aktive Lernen steht im Vordergrund. Aus dieser Perspektive bleiben mithin nicht nur die medialen Inhalte entscheidend, sondern auch das – eher beratende und moderierende – pädagogische Arrangement, die Qualität der Lernumgebung ("learning environment"). Konstruktivistisches Lernen setzt also nicht nur authentisch und situationsbezogen auf das ausgewogene Zusammenspiel von Lehrenden, Lernenden und dem zu vermittelnden Gegenstand, sondern eröffnet zudem vielschichtige Perspektiven des Deutens und Verstehens. Dahinter steht die Annahme, dass Lernen ein aktiver und konstruktiver Prozess ist.
Diese Grundprinzipien der konstruktivistischen Lerntheorie bedingen gerade für die Gruppe der heranwachsenden Spätaussiedler handlungsleitende und handlungsorientierende Impulse, die die integrative Zielsetzung mit der Ausbildung sprachlich-medialer Komponenten systematisch verknüpfen. Die spezifische Situation dieser Gruppe bedingt einen engen Zusammenhang zwischen dem thematischen Interesse (Jugend, Sport, Mode, Medien, Gesellschaft) sowie dem angestrebten Wissenserwerb (sprachlich-mediale Kompetenzen). Die Möglichkeit zur Interaktivität im Curriculum fördert eine aktive Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden multimedialen Angeboten. Je stärker Lernende sich in Lernanwendungen hineinversetzen können, desto intensiver wird die Anwendung und die Motivation zum Lernen. Interaktivität im Bereich der multimedialen Sprachförderung bezieht sich auf verschiedene Ebenen: Anmerkungen und Kommentare online einfügen, thematische Parallelen ziehen und suchen (Suchmaschinen, Links etc.), Texte verfassen und auswählen (Online-Geschichten ergänzen; Chat-Kommunikation und Diskussionsforen). All diese Punkte berühren sowohl den Erwerb sprachlicher Kompetenzen als auch die Ausprägung einer Medienkompetenz, die sich analytisch-theoretisch nicht nur in verschiedene Bereiche ausdifferenzieren lässt, sondern unter dem besonderen sozialisatorischen Aspekt der zugewanderten Gruppe heranwachsender Spätaussiedler zur Schlüsselqualifikation avanciert.


3. Medienkompetenz als Schlüsselqualifikation

Mindestens sechs Dimensionen lassen sich ausführen, die den Komplex "Medienkompetenz" im Rahmen einer modernen, innovativen Medienpädagogik charakterisieren. Die einzelnen Teilgebiete bilden insofern eine innere Einheit, als sich Lebenswelten und Medienwelten gesellschaftlich zunehmend miteinander verzahnen und verdichten. Die Komponenten entfalten ihre Bedeutung und praktische Relevanz erst im Zusammenspiel, in der Wechselbezüglichkeit und im Wirken zueinander.

A. Medienkunde

Medienkunde beinhaltet sowohl Kenntnisse früherer als auch gegenwärtiger Medien und Mediensysteme, und zwar einerseits auf der Ebene

  • technisch-instrumentellen Wissens: Kenntnis sowohl über Art, Umfang, Zugehörigkeit und Möglichkeiten des Einsatzes verfügbarer Gerätschaften respektive Netzwerke als auch über vorhandene Software (Lehr- und Lernprogramme, Spiele, Browser etc.); andererseits auf der Ebene
  • historisch-sachlichen Wissens: Die neuen Medien sind in Ablösung vorausgehender Formen medialer Kommunikation zu verstehen. Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Mediensysteme sind auszuloten, Ziele und Interessen sowohl privatwirtschaftlich organisierter Anbieter als auch der Öffentlich-Rechtlichen zu reflektieren; Programmvielfalt und Genretypen sind zu differenzieren.

B. Mediennutzung

Mediennutzung umfasst einerseits den Bereich strategisch-instrumenteller Handhabung:

  • rezeptiv und anwendungsorientiert, die Bedienung der Hardware ebenso betreffend wie den sachgerechten Gebrauch von Lern- und Spiele-Software, von Browsern und Programmen der Text- und Datenverarbeitung.

Mediennutzung umfasst andererseits die Kompetenz,

  • selbständig und interaktiv mediale Realitäten zu erschließen und auszubauen: in sozialer, kommunikativer oder ökonomischer Hinsicht; von Gesprächsforen über Tele-Shopping und -Banking bis hin zur Kompetenz, produktiv und zielorientiert Informationen aus dem Internet zu filtern (Umgang mit Suchmaschinen, Bedeutung von Hyperlinks etc.).

C. Mediendidaktik

Mediendidaktik umfasst sowohl technische als auch semantische und pragmatische Kompetenzen, und zwar auf folgenden Handlungsebenen:

  • Für welche Zwecke setze ich welche neuen (oder alten) Medien auf welche Weise ein? Wie lassen sich jeweils deren Stärken und Schwächen im Prozess der Vermittlung beschreiben und berücksichtigen?
  • Welche Methoden und Inhalte korrespondieren mit welchen Zielen und konstituieren bestimmte mediale Formen der Vermittlung?
  • Wie verknüpfe ich den curricularen Einsatz neuer Medien mit traditionellen Lehr- und Unterrichtsformen? An welchen Schnittpunkten fördern innovative Varianten der konstruktivistischen Lern- und Lehrtheorie die Vermittlung? Wie eröffne ich unterrichtspraktisch und situationsspezifisch mit Hilfe verschiedener Medien kreative, kommunikative und soziale Räume?

D. Medienkritik

Medienkritik umfasst zwei Handlungsebenen:

  • analytisch-evaluative Ebene: Die Medienanalyse erfasst sowohl einzelne Medien (Fernsehen, Hörfunk, Presse, Video, PC, Handy, Internet) als auch Funktion und Bedeutung einzelner Medienprodukte (etwa Polit- und Unterhaltungssendungen, aber auch Spiele-, Lehr- und Lern-Software, bei der etwa zu fragen ist, inwieweit Unterhaltungseffekte mögliche Lerneffekte verdecken). Die Analyse betrachtet diese Phänomene im gesamtgesellschaftlichen Kontext, in ökonomisch-politischer wie in sozialer Hinsicht; auch im Hinblick auf Medienverbünde.
    Weitere Aspekte der Betrachtung: Funktion, Bedeutung und Analyse medialer Wirklichkeitskonstrukte. Inwieweit bestimmt und beherrscht mediale Realität gesellschaftliche Realität? Inwieweit lässt sich mediale Erfahrung von eigener Erfahrung überhaupt noch unterscheiden? In dieser Hinsicht fordert kritische Reflexion die kognitive Fähigkeit, Entwicklungen und Veränderungen im medialen Geschehen verstehen und gesamtgesellschaftliche Zustände bewerten zu können.
    Medienkritik reflektiert weitere Bezüge: In welcher Weise berühren die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien Qualität und Quantität des Kommunizierten im sozialen Raum (etwa Internet-, PC- und Handy-Kommunikation im allgemeinen; Chat- und SMS-Kommunikation im besonderen)? Welche Verhaltensänderungen und normativen Einstellungen prägen in der Folge das Bild gesellschaftlicher Auseinandersetzung?
  • selbst-reflexive Ebene: Wirkung und Bezug der analytischen Kenntnisse auf sich selbst sowie auf das konkrete Handeln anderer (medial-rezeptives Verhalten). Diese Ebene betrifft keineswegs nur Heranwachsende, auch Lehrende sollten sich stets selbst fragen, ob etwa das zeitaufwendige, oft quälende Einarbeiten in neu angepriesene Programme und Produkte wirklich dem Unterricht nützt oder bloß dem Streben, "up to date" zu sein.

E. Medienethik

Auf der Grundlage des analytischen, reflexiven und medienkritischen Denkens formuliert und beschreibt die Medienethik

  • die Möglichkeiten, Grenzen und Risiken medial-kommunikativen Handelns für eine am Wohl des Menschen orientierte Gesellschaft im Anwendungsbereich einzelner Medien, Medienverbünde und der dort verwendeten Genre- und Programmtypologien, aber auch antizipierend im Hinblick auf Neuerungen und Weiterungen im gesamtgesellschaftlichen Bereich; deshalb
  • artikuliert die Medienethik Ziele und Zwecke, die als normative Grundlage medialer Aktivitäten fungieren. Sie wird damit dem Postulat eines "Prinzips Verantwortung8" gerecht.

F. Mediengestaltung

Mediengestaltung bezieht sich einerseits

  • instrumentell-innovativ auf Veränderungen, Ergänzungen oder Erweiterungen bestehender Medien oder Mediensysteme, auch unter der Prämisse zuvor formulierter Vorgaben und Ziele, und andererseits
  • kreativ-arrangierend auf designtheoretisch respektive -praktisch konzentrierte Anwendungen (beispielsweise CD-ROM- oder Homepage-Gestaltung), auch unter Hervorhebung ästhetisch-funktionaler respektive nonverbaler Bedeutungsebenen, die etwa differenzierte Wirklichkeitsbezüge gestalterisch-kreativ erschließen helfen.

Ziel des mündigen Individuums

Das Ziel dieser umfassenden, in Praxis umzusetzenden Medienkompetenz besteht nicht nur darin, allen gleiche Chancen einzuräumen, an den medialen wie multimedialen Errungenschaften zu partizipieren, sondern den Einzelnen auch zu einem selbstbewussten, aufgeklärten Individuum heranzubilden. In diesem Zusammenhang greift im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der Begriff der "Medienbildung", der Medienkompetenz in einen ganzheitlichen Blickwinkel eines für sich und andere Verantwortung tragenden Individuums rückt9. Die Tatsache, dass es – wie im Falle der heranwachsenden Spätaussiedler – nach wie vor Gruppen von Menschen gibt, die die neuen Technologien entweder aus ökonomischen oder bildungspraktischen Gründen nicht oder nicht produktiv nutzen können, deutet auf die Notwendigkeit hin, einerseits mehr Fördermittel bereitzustellen und andererseits projektorientiertes Lernen zu intensivieren: In der offenen Gestaltung sprachlich-medialer Projekte im Bereich der Arbeit mit heranwachsenden Spätaussiedlern erwächst eine Medienkompetenz, die fördernd auf die Lern- und Lebenspraxis dieser Gruppe wirkt und diese befähigt, sich dem medialen wie gesellschaftlichen Geschehen gegenüber reflexiv zu verhalten.10


4. Durchführung des Stadtteilprojekts

a. Teilnehmerorientierte Medienarbeit: Didaktische Konzeption und Lernziele

Das Projekt wird im Computerraum des Stadtteilzentrums KroKuS durchgeführt. Die Förderung erstreckt sich auf 18 überwiegend russisch sprechende Spätaussiedler im Alter ab 16 Jahren. Die Gruppe kommt einmal wöchentlich für vier Unterrichtsstunden zusammen. Die Deutschkenntnisse der Teilnehmenden rangieren zwischen gering bis mittelmäßig. Die bisherige Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik liegt zwischen wenigen Monaten und anderthalb Jahren. Die Betreuung und Unterrichtung der Gruppe erfolgt durch zwei ausgebildete Dozenten mit fundierten medienpädagogischen Kenntnissen.
Der organisatorische Aufbau des Projekts strukturiert sich in drei qualifizierte, einander ergänzende Module der sprachlich-medialen Förderung:

  1. MODUL "politische Bildung"
    Aufklärung über relevante Eigenschaften und Eigenheiten des sozio-politischen Systems der Bundesrepublik (Gesellschaftskunde) sowie über alltägliche Besonderheiten und Risiken im Umgang mit Medien, Werbung, Konsum und Angelegenheiten rund um Schule, Lehre und Beruf.
  2. MODUL "sprachliche Schulung"
    Computergestützte Vermittlung und Förderung relevanter Grammatik- und Sprachkenntnisse unter der Prämisse anwendungsbezogener Modelle (Schule, Beruf, Ämter, Arztbesuch, Freizeit, Alltag, Umwelt).
  3. MODUL "Förderung multimedialer Kompetenzen"
    Einweisung und Arbeit am PC; Textverarbeitung, MS Office, Photo-Editor; Einführung ins Internet; schul- und sachbezogene Recherche im Netz (Suchmaschinen, Meta-Suchmaschinen etc.)
    Im Anschluss an die gemeinsame Sitzung können die Teilnehmer die Computer (und bei Bedarf die Betreuung) noch weiter nutzen, etwa um E-Mails abzurufen oder sich online über die Angebote des Arbeitsamtes zu informieren – oder auch dazu, um zuvor gemeinsam besprochene Sachverhalte aus dem Bereich Gesellschaftskunde durch gezielte Recherche weiter zu vertiefen.

Die mit diesen Bausteinen korrespondierenden Lernziele verfolgen:

  • zunächst Fortschritte in Verständnis, Gebrauch und Anwendung der deutschen Sprache,
  • um in weiteren lebensweltlichen Bezügen die erworbenen kommunikativen, sozio-politischen und multimedialen Kompetenzen individuell-biographisch umzusetzen
  • und in der Folge den Integrationsprozess erfolgreich zu initialisieren.

b. Modularisierung mediendidaktischer Bausteine

Die spezifische Situation der einwandernden Spätaussiedler erfordert didaktisch-pädagogisch eine besondere Feinfühligkeit im Hinblick auf den Umgang und die Vermittlung des Stoffes. Aus einem gänzlich anderen Kulturkreis stammend (Sibirien, Kasachstan), treffen die Spätaussiedler in der Bundesrepublik auf ein gesamtgesellschaftliches Gefüge, in dem einerseits der Zusammenhang von massenmedialer Überreizung, Werbung und Konsum eine unvergleichbar hohe Bedeutung und alltägliche Relevanz auch mit Blick auf Statussymbol und soziale Schichtung einnimmt11 (besonders jugendliche Spätaussiedler streben rasch danach, an der "Konsumgesellschaft" teilzuhaben); andererseits formiert sich hier im Gegensatz zur bisherigen Heimat die politische wie mediale Lebenswelt auf eine Weise, die die Kompetenz und das Engagement des Einzelindividuums in einem Maße herausfordert, an dem sich der Grad an Selbständigkeit und Emanzipation bemisst. Mehr als ihre Eltern bleiben deren Kinder von diesem Wandel betroffen: Die Heranwachsenden sind im Herkunftsland in der Regel sozial integriert gewesen und zeigen an einer Übersiedlung in die Bundesrepublik im Gegensatz zu ihren Eltern oftmals nur ein mäßiges Interesse. Die mangelnden Sprachkenntnisse verstärken den Bruch in der Sozialisation, der nicht nur zu Außenseitertum und psychischem Leid führen kann, sondern den Abstieg in die kriminelle Szene oft auch begünstigen hilft.12
Diese Situation erfordert von Seiten der Betreuung nicht nur sozialpädagogische Feinfühligkeit und interkulturelle Kompetenzen; die sprachlich-mediale Förderung hat darüber hinaus an der Anforderung anzusetzen, Deutsch als Alltagssprache und als Fachsprache zu vermitteln.
Das Konzept der drei aufeinander aufbauenden und ergänzenden Bausteine "politische Bildung", "sprachliche Schulung" und "mediale Förderung" kommt diesen Ansprüchen nach und hat sich als sinnvolle Maßnahme zur Integration bewährt.

  1. MODUL "politische Bildung"
    Der Baustein "politische Bildung" eröffnet jede Sitzung. Zuvor werden bei Bedarf herausragende persönliche Erlebnisse oder Erfahrungen besprochen, die einzelne Teilnehmer unter der Woche mit Behörden, Ämtern, Vorgesetzten, Lehrern oder Eltern sammeln konnten. Das Forum bietet weiter die Möglichkeit, auf spezielle Veranstaltungen für (jugendliche) Spätaussiedler hinzuweisen. Die nachfolgende Überleitung zu wechselnden Themen aus dem Bereich Gesellschaft, Soziales und Politik orientiert sich sowohl an tagespolitisch aktuellen Ereignissen (etwa BSE-Krise, Umweltgipfel, BAföG-Novellierung, SIS – Stellen-Informations-Service des Arbeitsamts), Begebenheiten auf politisch-administrativer Ebene oder die Gruppe der heranwachsenden Spätaussiedler betreffende Neuregelungen als auch an Grundfragen und Grundlagen des hiesigen politischen Systems (Gesellschaftskunde). Die gemeinsam zu besprechenden Themen reichen von der Aufgabe und Bedeutung des Bundestags, Bundesrats, der Gesetzgebung sowie einzelner Ressorts des Kabinetts über Informationen zum Arbeitsmarkt, zur beruflichen Situation und Perspektive einzelner Sparten bis hin zu Fragen um den Bereich Freizeit, Massenmedien, Werbung und Konsum (Warnung vor Haustürgeschäften, Ratenkrediten und Versicherungsverträgen; Aufklärung über Lock- und Discount-Angebote, über die reißerische und kommerzielle Absicht mancher Medien; Bedeutung des Markenkults und -trends, sinnvolle Alternativen etc.). Neben der Erschließung der genannten Sachthemen verfolgt dieser Baustein das Ziel, gesprächsweise und didaktisch einfühlsam in lockerer Atmosphäre über die Alltagssprache hinaus eine kommunikative Kompetenz zu festigen.
  2. MODUL "sprachliche Schulung"
    Der Baustein "sprachliche Schulung" bildet den Kern der Förderung und zielt unter Anwendung teilnehmerorientierter Lese- und Sprachübungen auf die Festigung des Grundwortschatzes (etwa drei Unterrichtsstunden pro Woche). Die Unterrichtsarbeit erfolgt mit Folien, Computer und Internet. Mit Hilfe speziell entwickelter Software, die sich sowohl im Kontext "Deutsch als Fremdsprache" als auch auf die Belange der Spätaussiedler zielgruppenorientiert einsetzen lässt werden neben grammatikalischen Grundkenntnissen insbesondere syntaktisch-lexikalische Grundlagen der deutschen Sprache an Beispielen aus dem Alltagsleben vermittelt13. Zum Einüben von Artikeln, Verbformen in den Zeitachsen Präsens, Perfekt und Präteritum sowie Präpositionen und Adjektiv-Endungen stehen sowohl Lückentexte als auch Multiple-Choice-Aufgaben zur direkten Eingabe und Ergänzung am PC zur Verfügung. Die Form der Übungen ist im allgemeinen so strukturiert, dass das Material stets auf einen semantischen Kontext rekurriert, der Nähe zur Lebenswelt insbesondere der Heranwachsenden aufweist (Schule, Beruf, Freizeit, Familie, Disco, Sport, Mode etc.). Neben weiteren thematischen Einheiten (Sprichwörter; Sachtexte etwa zu Umwelt, Energie, Sucht, Mietshaus, Einkaufen, Ländervergleich, Urlaub, Errungenschaften des 20. Jahrhunderts etc.) handelt es sich auf sprachlich-grammatikalischer Ebene im einzelnen um:
    • Passiv- / Aktiv-Übungen in allen Zeitstufen
    • Präpositionen / Präpositionalergänzungen
    • Verben /stark + schwach) / reflexive Verben / Modalverben
    • Nebensätze (Relativ- / Konzessivsätze)
    • Konjunktiv / Konditional / Temporal
    • Komparativ – Superlativ
    • Subjekt-Objekt-Relation / Fälle
    • Negation (Verwendung von "nicht" und "kein")
    • Irrealer Vergleich (Vergleiche mit "als + Konjunktiv I / II oder "als ob + Konjunktiv II")
    • Wortschatzübungen / Redemittel: Partikel setzen / Meinung artikulieren, Argumente sprachlich erzeugen / Formen bilden ("hoch - groß – lang - kurz" etc.)
    • Präsens, Präteritum, Futur / Partizip I + II.

Die Übungen werden sowohl gemeinsam Satz für Satz bearbeitet als auch in Stillarbeit mit einer anschließenden ausführlichen Besprechung. Schwächere Teilnehmer arbeiten zunächst entweder hilfsweise mit einem der Betreuer zusammen oder bilden untereinander Zweiergruppen, da sich auf diese Weise weitere Hemmungen abbauen und Lernerfolge substantiieren lassen.
Die Sprachübungen auf der Ebene multimedialer Anwendung weisen den pädagogisch-didaktischen Nutzen einer teilnehmerorientierten Interaktivität auf:

  • Die Übungen lassen sich am Ende per Mausklick online auf Fehlerhaftigkeit auswerten und überprüfen.
  • Alternativ erfolgt die Korrektur auch nach jedem Abschnitt. Die Schüler wissen binnen Sekunden, in welchem Segment wieviele und vor allem welche Art von Fehlern sie produzieren.
  • Schwächere Teilnehmer haben neben der persönlichen Betreuung auch die Möglichkeit, sich bereits beim Bearbeiten der einzelnen Schritte Hilfe zu beschaffen, etwa wenn sich die einzusetzende Endung eines Adjektivs als unüberwindliche Hürde erweist: Per Mausklick wird jeweils vom System solange ein Buchstabe ergänzt, bis der Schüler wieder selbst weiter weiß.
  • Zunächst als "trocken" empfundene Sprachübungen erlangen durch konzeptionell eingearbeitete Links und weitere Verweise eine motivierende Unterfütterung, die die Lernenden in einen umfassenden thematisch-sachlichen Kosmos einwebt.14

Zur didaktischen Fundierung und Veranschaulichung des Lehr- und Lernstoffes trägt der vom Dozenten-PC aus gesteuerte Video-Beamer bei: Gemeinsame Übungen, Hinweise und Demonstrationen erzielen dadurch einen positiven Lerneffekte, dass die Lernenden die sachbezogenen Erläuterungen und Ergänzungen des Dozenten auf der Großbildleinwand plastisch nachvollziehen können.

  1. MODUL "Förderung multimedialer Kompetenzen"
    Der Baustein "Förderung multimedialer Kompetenzen" bleibt eng mit den Bausteinen "politische Bildung" und "sprachliche Schulung" verzahnt. Über die bereits genannten Fördermaßnahmen hinausgehend, entwickelt dieses etwa zwei Unterrichtsstunden umfassende Modul sowohl Fertigkeiten im Umgang mit Computer, Internet und Multimedia als auch mit entsprechender Software. Die Grundlagenarbeit erstreckt sich von der Vermittlung allgemeiner PC- und Peripheriekenntnisse über die Einübung häufig verwendeter Software (Word, Excel, Internet Explorer, Netscape Navigator, Photo Editor) bis hin zum themenbezogenen und praxisorientierten Einsatz diverser (Meta-) Suchmaschinen. Darüber hinaus umfasst das Modul den Bereich E-Mail (Einrichtung von E-Mail-Adressen; Netscape Messenger; Outlook Express) sowie der Umgang mit fach- und jugendspezifischen Chats und Diskussionsforen.15

c. Interaktives Lernen: Exemplarisches Lernmodul "Ökologische Phantasie"

Eine Lernmotivation gänzlich ohne spielerische Impulse herzustellen, lässt sich heutzutage insbesondere bei der Gruppe Jugendliche / junge Erwachsene kaum noch realisieren. Im Kontext unseres Projekts erwies sich in dieser Hinsicht die Partizipation an Multimedia und Internet per se als hilfreich. Die Praxis hat gezeigt, dass in den Lernzusammenhang eingewobene spielerische Elemente die Aufmerksamkeit und Begeisterung der Teilnehmenden zu steigern vermögen.16 Derartige Einsprengsel verstehen sich mithin didaktisch motiviert; sie reichen vom Internet-Suchquiz zu jugendrelevanten Themen über "Reihentext-Ergänzungen" mittels der untereinander vernetzten PC’s bis hin zum motivierenden Unterrichtsprojekt "Kettengeschichten schreiben": Das Projekt "1001 Nacht" des Goethe-Instituts Trieste in Italien wendet sich in diesem Sinne an Sprachstudierende weltweit17. Jeder, der eine gute Idee zur Weiterführung einer der angebotenen Geschichten entwickelt, kann einen oder mehrere Sätze online an das Institut senden, das die Texte kurzfristig sichtet, korrigiert und auf Wunsch mit Namensnennung auf der speziellen Website veröffentlicht. Die weltweite Veröffentlichung stärkt sowohl das Selbstbewusstsein als auch die Motivation, weiter zu arbeiten. Zur Auswahl stehen Geschichten rund um Freundschaft, Liebe und Abenteuer. Die Teilnahme ist recht einfach: Auf der entsprechenden Website lässt sich der Text mühelos in ein Online-Formular eintragen und absenden.
Auf der Grundlage der vom Goethe-Institut bereitgestellten Online-Geschichten entwickelten wir im Rahmen unseres Projekts speziell für die Lern- und Zielgruppe der heranwachsenden Spätaussiedler ein umfassendes Lernmodul zum Bereich "Ökologie"18. Das Thema "Ökologie" eignet sich für diese Gruppe besonders, da in ihren Herkunftsländern Fragen des Umweltschutzes keine Rolle spielen und sich von daher ein bedeutender Anknüpfungspunkt für die Integration in die hiesige Gesellschaft bietet.
Das exemplarische Lernmodul, das als Grundlage, Prototyp und Anregung für weitere kulturpädagogische Curricula mit jugendrelevanten Sachthemen bereitsteht, strukturiert sich in sieben aufeinander aufbauende und ergänzende Lernebenen, die im multimedialen Kanon sowohl die sprachlichen als auch die medialen Kompetenzen didaktisch abgestimmt zu der im Projektziel formulierten integrativen Einheit führen.19

1. Ebene ("freies Formulieren

 

Seit 20 Jahren in der Spätaussiedlerarbeit und -betreuung tätig; Forschungsschwerpunkte: Medienpädagogik, Mediensoziologie; Medien- und Kommunikationswissenschaften; Jugend- und Erwachsenenbildung; zahlreiche Buchveröffentlichungen, wissenschaftliche Aufsätze und Essays.


Das Projekt im Stadtteil Hannover-Bemerode (Stadtteilzentrum KroKuS) setzt sich zum Ziel, die sprachlich-medialen Kompetenzen zugezogener Spätaussiedler durch intensive Förderung zu stärken. Diese Förderung erstreckt sich auf einen Teilnehmerkreis von 18 Spätaussiedlern im Alter ab 16 Jahren, die zum Teil erst wenige Monate in der Bundesrepublik sind. Der organisatorische Aufbau des Projekts strukturiert sich in drei qualifizierte, einander ergänzende Module einer sprachlich-medialen Förderung, die in eine fundierte Phase der Nachbereitung münden: Der Erwerb sprachlicher Kompetenzen im Bereich Ausdruck, Grammatik, und Lexik wird thematisch in relevante, die Migranten betreffende gesellschaftspolitische Themen eingewoben ("Gesellschaftskunde"). Diese beiden Komponenten wiederum werden durch PC- und internetgestützte interaktive (Sprach-) Übungen derart fundiert, dass am Ende die zusammengeführten Säulen "Sprache, Gesellschaft und Multimedia" die Herausforderungen des Alltags vorbereiten und die Integrationsfähigkeit beleben


1. Hintergrund und Ziele des Projekts

"Sprache als Schlüssel zur Integration"

Zwischen 1990 und 2000 wanderten etwa 2 Millionen Spätaussiedler in die Bundesrepublik ein, überwiegend aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Durch die Festschreibung der jährlich zu erteilenden Aufnahmebescheide hat sich die Anzahl der Zuzüge seit dem Jahre 2000 auf etwa 100.000 Personen jährlich eingependelt. Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, MdB Jochen Welt, beabsichtigt, künftig nicht nur deutschstämmige Spätaussiedler einen Sprachtest absolvieren zu lassen, sondern auch sämtliche Mitreisende, etwa die Familienangehörigen1. Der Hintergrund dieser Regelung besteht darin, dass die Deutschkenntnisse der Einreisenden zunehmend schlechter ausfallen: Zu Beginn des letzten Jahrzehnts, am Anfang der großen Rückwanderungsbewegung der deutschstämmigen Aussiedler vor allem aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, besaßen etwa siebzig Prozent der Einreisenden einen unmittelbaren Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Die meisten von ihnen wiesen mehr oder weniger befriedigende Deutschkenntnisse auf, mindestens doch in einer Dialektvariante. Dreißig Prozent der damals Zuziehenden galten als direkte Angehörige von unmittelbar Anspruchsberechtigten, beispielsweise Ehepartner oder Kinder und Enkel. Mittlerweile hat sich dieses Verhältnis ins Gegenteil verkehrt: Lediglich ein Viertel der jährlich zuwandernden Aussiedler erhält den Status eines direkt Anspruchsberechtigten. Drei Viertel der heute Einwandernden sind russischer oder anderer Herkunft und leiten ihren Anspruch auf Zuzug und deutsche Staatsangehörigkeit von der Verwandtschaft mit den unmittelbar Anspruchsberechtigten ab.
Mit Blick auf die defizitären Deutschkenntnisse sind besonders jugendliche und heranwachsende Spätaussiedler betroffen. Die Anzahl derjenigen, die noch vor der Ausreise in Familienzusammenhängen traditionell die deutsche Sprache pflegen, nimmt rapide ab. Diese Entwicklung führt zu nachhaltigen negativen Konsequenzen hinsichtlich der gesellschaftlichen Integration heranwachsender Spätaussiedler2, vor allem in die Gruppe der Gleichaltrigen. Deshalb besitzt die qualifizierte Eingliederung jugendlicher Aussiedler für die Bundesregierung "absolute Priorität": "Für mich", fasst der Aussiedlerbeauftragte Jochen Welt auch unter der Perspektive eines erhöhten Bedarfs an qualifiziertem Nachwuchs zusammen, "heißt das Schlüsselwort zur Integration: Deutschkenntnisse."3
An dieser Schnittstelle zwischen Übersiedlung und Integration in hiesige lebensweltliche Kontexte setzt unser Projekt "Netzwerk Aussiedler" im Stadtteil Hannover-Bemerode (Stadtteilzentrum KroKuS) an.


2. Theoretisch-methodischer Rahmen

Inhaltlich zielt das Projekt auf die Förderung der medialen wie sprachlichen Kompetenzen, wobei methodisch insbesondere an die handlungsorientierte Medienpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der konstruktivistischen Lerntheorie sowie der Theorie der Lernumgebungen ("learning environments") angeknüpft wird.

Zum Begriff Medienkompetenz

Lebenswelten und Medienwelten erscheinen heute mehr denn je miteinander verzahnt: von elektronisch motivierter Kommunikation über multimediale Lerntechniken bis hin zum allseits gebrauchten Handy und dem Kinderfernsehen, bei dem Programm, Werbung und außermediales Geschehen immer häufiger miteinander verschmelzen. Die Konvergenz von Lebenswelt und Medienwelt berührt die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, wie wir lernen und uns entwickeln. Die Rasanz, mit dem diese Prozesse voranschreiten, erfordert eine den Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gegenüber aufgeschlossene Medienpädagogik, die weit mehr als stereotype Handlungsanweisung oder Einführung in technische Details darstellt: Vielmehr geht es um die bewusste, aktive Teilnahme des einzelnen an gesellschaftlicher Kommunikation, also auch darum, Informationen qualitativ zu selektieren und das eigene wie das gesellschaftliche Handeln zu reflektieren – in diesem Sinne Kompetenzen zu erlangen, die als Schlüsselqualifikationen die wachsende Wissens-, Bildungs- und Handlungskluft insbesondere der im Bildungsbereich Benachteiligten zu überwinden helfen.4
Spätestens mit der Einführung des Begriffs der Medienkompetenz in die medienpädagogische Diskussion in den siebziger Jahren durch den Bielefelder Medienpädagogen Dieter Baacke kündigte sich der Wechsel von den in den fünfziger und sechziger Jahren noch weitgehend bewahrpädagogisch verhafteten Anschauungen hin zu kritisch intendierten und handlungsorientierten Konzepten der Medienpädagogik an5: Medienkompetenz als handlungsorientierte Fähigkeit verstanden, geht über rein institutionell und ziel-zweckorientiert begrenztes Denken insofern hinaus, als sie den engen Rahmen schulisch-instrumenteller Bezüge transzendiert, fördernd in lebensweltliche Kontexte eingreift und übergreifende Bildungszusammenhänge strukturiert. Im Zeichen von Globalisierung und zunehmender Mediatisierung impliziert das kommunikativ-mediale Geschehen weiterführende Sinn- und Deutungsmuster, die den Einzelnen sowohl in seiner individuellen Entwicklung als auch auf der Ebene gesellschaftlicher Interaktion bilden.6
Medienkompetenz als Teilaspekt von kommunikativer Kompetenz fügt sich in ein umfassendes Kompetenzgefüge, das sozialgeschichtlich und kulturbezogen das Bild des mündigen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt umschreibt. Diese Kompetenzen entspringen weder einem angeborenen Muster noch folgen sie einer determinierten Entwicklungslogik. Sie müssen ontogenetisch von jedem Individuum mühsam in aufreibenden Erziehungs- und Bildungsprozessen erfahren, angeeignet, erworben und immer wieder gelebt werden.

Konstruktivistische Lerntheorie

Die konstruktivistische Lerntheorie betont die Bedeutung der Konstruktion von Wissen, das nicht nur einfach vermittelt, sondern in den Köpfen der Lernenden aktualisiert und aktiviert wird7. Das aktive Lernen steht im Vordergrund. Aus dieser Perspektive bleiben mithin nicht nur die medialen Inhalte entscheidend, sondern auch das – eher beratende und moderierende – pädagogische Arrangement, die Qualität der Lernumgebung ("learning environment"). Konstruktivistisches Lernen setzt also nicht nur authentisch und situationsbezogen auf das ausgewogene Zusammenspiel von Lehrenden, Lernenden und dem zu vermittelnden Gegenstand, sondern eröffnet zudem vielschichtige Perspektiven des Deutens und Verstehens. Dahinter steht die Annahme, dass Lernen ein aktiver und konstruktiver Prozess ist.
Diese Grundprinzipien der konstruktivistischen Lerntheorie bedingen gerade für die Gruppe der heranwachsenden Spätaussiedler handlungsleitende und handlungsorientierende Impulse, die die integrative Zielsetzung mit der Ausbildung sprachlich-medialer Komponenten systematisch verknüpfen. Die spezifische Situation dieser Gruppe bedingt einen engen Zusammenhang zwischen dem thematischen Interesse (Jugend, Sport, Mode, Medien, Gesellschaft) sowie dem angestrebten Wissenserwerb (sprachlich-mediale Kompetenzen). Die Möglichkeit zur Interaktivität im Curriculum fördert eine aktive Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden multimedialen Angeboten. Je stärker Lernende sich in Lernanwendungen hineinversetzen können, desto intensiver wird die Anwendung und die Motivation zum Lernen. Interaktivität im Bereich der multimedialen Sprachförderung bezieht sich auf verschiedene Ebenen: Anmerkungen und Kommentare online einfügen, thematische Parallelen ziehen und suchen (Suchmaschinen, Links etc.), Texte verfassen und auswählen (Online-Geschichten ergänzen; Chat-Kommunikation und Diskussionsforen). All diese Punkte berühren sowohl den Erwerb sprachlicher Kompetenzen als auch die Ausprägung einer Medienkompetenz, die sich analytisch-theoretisch nicht nur in verschiedene Bereiche ausdifferenzieren lässt, sondern unter dem besonderen sozialisatorischen Aspekt der zugewanderten Gruppe heranwachsender Spätaussiedler zur Schlüsselqualifikation avanciert.


3. Medienkompetenz als Schlüsselqualifikation

Mindestens sechs Dimensionen lassen sich ausführen, die den Komplex "Medienkompetenz" im Rahmen einer modernen, innovativen Medienpädagogik charakterisieren. Die einzelnen Teilgebiete bilden insofern eine innere Einheit, als sich Lebenswelten und Medienwelten gesellschaftlich zunehmend miteinander verzahnen und verdichten. Die Komponenten entfalten ihre Bedeutung und praktische Relevanz erst im Zusammenspiel, in der Wechselbezüglichkeit und im Wirken zueinander.

A. Medienkunde

Medienkunde beinhaltet sowohl Kenntnisse früherer als auch gegenwärtiger Medien und Mediensysteme, und zwar einerseits auf der Ebene

  • technisch-instrumentellen Wissens: Kenntnis sowohl über Art, Umfang, Zugehörigkeit und Möglichkeiten des Einsatzes verfügbarer Gerätschaften respektive Netzwerke als auch über vorhandene Software (Lehr- und Lernprogramme, Spiele, Browser etc.); andererseits auf der Ebene
  • historisch-sachlichen Wissens: Die neuen Medien sind in Ablösung vorausgehender Formen medialer Kommunikation zu verstehen. Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Mediensysteme sind auszuloten, Ziele und Interessen sowohl privatwirtschaftlich organisierter Anbieter als auch der Öffentlich-Rechtlichen zu reflektieren; Programmvielfalt und Genretypen sind zu differenzieren.

B. Mediennutzung

Mediennutzung umfasst einerseits den Bereich strategisch-instrumenteller Handhabung:

  • rezeptiv und anwendungsorientiert, die Bedienung der Hardware ebenso betreffend wie den sachgerechten Gebrauch von Lern- und Spiele-Software, von Browsern und Programmen der Text- und Datenverarbeitung.

Mediennutzung umfasst andererseits die Kompetenz,

  • selbständig und interaktiv mediale Realitäten zu erschließen und auszubauen: in sozialer, kommunikativer oder ökonomischer Hinsicht; von Gesprächsforen über Tele-Shopping und -Banking bis hin zur Kompetenz, produktiv und zielorientiert Informationen aus dem Internet zu filtern (Umgang mit Suchmaschinen, Bedeutung von Hyperlinks etc.).

C. Mediendidaktik

Mediendidaktik umfasst sowohl technische als auch semantische und pragmatische Kompetenzen, und zwar auf folgenden Handlungsebenen:

  • Für welche Zwecke setze ich welche neuen (oder alten) Medien auf welche Weise ein? Wie lassen sich jeweils deren Stärken und Schwächen im Prozess der Vermittlung beschreiben und berücksichtigen?
  • Welche Methoden und Inhalte korrespondieren mit welchen Zielen und konstituieren bestimmte mediale Formen der Vermittlung?
  • Wie verknüpfe ich den curricularen Einsatz neuer Medien mit traditionellen Lehr- und Unterrichtsformen? An welchen Schnittpunkten fördern innovative Varianten der konstruktivistischen Lern- und Lehrtheorie die Vermittlung? Wie eröffne ich unterrichtspraktisch und situationsspezifisch mit Hilfe verschiedener Medien kreative, kommunikative und soziale Räume?

D. Medienkritik

Medienkritik umfasst zwei Handlungsebenen:

  • analytisch-evaluative Ebene: Die Medienanalyse erfasst sowohl einzelne Medien (Fernsehen, Hörfunk, Presse, Video, PC, Handy, Internet) als auch Funktion und Bedeutung einzelner Medienprodukte (etwa Polit- und Unterhaltungssendungen, aber auch Spiele-, Lehr- und Lern-Software, bei der etwa zu fragen ist, inwieweit Unterhaltungseffekte mögliche Lerneffekte verdecken). Die Analyse betrachtet diese Phänomene im gesamtgesellschaftlichen Kontext, in ökonomisch-politischer wie in sozialer Hinsicht; auch im Hinblick auf Medienverbünde.
    Weitere Aspekte der Betrachtung: Funktion, Bedeutung und Analyse medialer Wirklichkeitskonstrukte. Inwieweit bestimmt und beherrscht mediale Realität gesellschaftliche Realität? Inwieweit lässt sich mediale Erfahrung von eigener Erfahrung überhaupt noch unterscheiden? In dieser Hinsicht fordert kritische Reflexion die kognitive Fähigkeit, Entwicklungen und Veränderungen im medialen Geschehen verstehen und gesamtgesellschaftliche Zustände bewerten zu können.
    Medienkritik reflektiert weitere Bezüge: In welcher Weise berühren die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien Qualität und Quantität des Kommunizierten im sozialen Raum (etwa Internet-, PC- und Handy-Kommunikation im allgemeinen; Chat- und SMS-Kommunikation im besonderen)? Welche Verhaltensänderungen und normativen Einstellungen prägen in der Folge das Bild gesellschaftlicher Auseinandersetzung?
  • selbst-reflexive Ebene: Wirkung und Bezug der analytischen Kenntnisse auf sich selbst sowie auf das konkrete Handeln anderer (medial-rezeptives Verhalten). Diese Ebene betrifft keineswegs nur Heranwachsende, auch Lehrende sollten sich stets selbst fragen, ob etwa das zeitaufwendige, oft quälende Einarbeiten in neu angepriesene Programme und Produkte wirklich dem Unterricht nützt oder bloß dem Streben, "up to date" zu sein.

E. Medienethik

Auf der Grundlage des analytischen, reflexiven und medienkritischen Denkens formuliert und beschreibt die Medienethik

  • die Möglichkeiten, Grenzen und Risiken medial-kommunikativen Handelns für eine am Wohl des Menschen orientierte Gesellschaft im Anwendungsbereich einzelner Medien, Medienverbünde und der dort verwendeten Genre- und Programmtypologien, aber auch antizipierend im Hinblick auf Neuerungen und Weiterungen im gesamtgesellschaftlichen Bereich; deshalb
  • artikuliert die Medienethik Ziele und Zwecke, die als normative Grundlage medialer Aktivitäten fungieren. Sie wird damit dem Postulat eines "Prinzips Verantwortung8" gerecht.

F. Mediengestaltung

Mediengestaltung bezieht sich einerseits

  • instrumentell-innovativ auf Veränderungen, Ergänzungen oder Erweiterungen bestehender Medien oder Mediensysteme, auch unter der Prämisse zuvor formulierter Vorgaben und Ziele, und andererseits
  • kreativ-arrangierend auf designtheoretisch respektive -praktisch konzentrierte Anwendungen (beispielsweise CD-ROM- oder Homepage-Gestaltung), auch unter Hervorhebung ästhetisch-funktionaler respektive nonverbaler Bedeutungsebenen, die etwa differenzierte Wirklichkeitsbezüge gestalterisch-kreativ erschließen helfen.

Ziel des mündigen Individuums

Das Ziel dieser umfassenden, in Praxis umzusetzenden Medienkompetenz besteht nicht nur darin, allen gleiche Chancen einzuräumen, an den medialen wie multimedialen Errungenschaften zu partizipieren, sondern den Einzelnen auch zu einem selbstbewussten, aufgeklärten Individuum heranzubilden. In diesem Zusammenhang greift im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der Begriff der "Medienbildung", der Medienkompetenz in einen ganzheitlichen Blickwinkel eines für sich und andere Verantwortung tragenden Individuums rückt9. Die Tatsache, dass es – wie im Falle der heranwachsenden Spätaussiedler – nach wie vor Gruppen von Menschen gibt, die die neuen Technologien entweder aus ökonomischen oder bildungspraktischen Gründen nicht oder nicht produktiv nutzen können, deutet auf die Notwendigkeit hin, einerseits mehr Fördermittel bereitzustellen und andererseits projektorientiertes Lernen zu intensivieren: In der offenen Gestaltung sprachlich-medialer Projekte im Bereich der Arbeit mit heranwachsenden Spätaussiedlern erwächst eine Medienkompetenz, die fördernd auf die Lern- und Lebenspraxis dieser Gruppe wirkt und diese befähigt, sich dem medialen wie gesellschaftlichen Geschehen gegenüber reflexiv zu verhalten.10


4. Durchführung des Stadtteilprojekts

a. Teilnehmerorientierte Medienarbeit: Didaktische Konzeption und Lernziele

Das Projekt wird im Computerraum des Stadtteilzentrums KroKuS durchgeführt. Die Förderung erstreckt sich auf 18 überwiegend russisch sprechende Spätaussiedler im Alter ab 16 Jahren. Die Gruppe kommt einmal wöchentlich für vier Unterrichtsstunden zusammen. Die Deutschkenntnisse der Teilnehmenden rangieren zwischen gering bis mittelmäßig. Die bisherige Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik liegt zwischen wenigen Monaten und anderthalb Jahren. Die Betreuung und Unterrichtung der Gruppe erfolgt durch zwei ausgebildete Dozenten mit fundierten medienpädagogischen Kenntnissen.
Der organisatorische Aufbau des Projekts strukturiert sich in drei qualifizierte, einander ergänzende Module der sprachlich-medialen Förderung:

  1. MODUL "politische Bildung"
    Aufklärung über relevante Eigenschaften und Eigenheiten des sozio-politischen Systems der Bundesrepublik (Gesellschaftskunde) sowie über alltägliche Besonderheiten und Risiken im Umgang mit Medien, Werbung, Konsum und Angelegenheiten rund um Schule, Lehre und Beruf.
  2. MODUL "sprachliche Schulung"
    Computergestützte Vermittlung und Förderung relevanter Grammatik- und Sprachkenntnisse unter der Prämisse anwendungsbezogener Modelle (Schule, Beruf, Ämter, Arztbesuch, Freizeit, Alltag, Umwelt).
  3. MODUL "Förderung multimedialer Kompetenzen"
    Einweisung und Arbeit am PC; Textverarbeitung, MS Office, Photo-Editor; Einführung ins Internet; schul- und sachbezogene Recherche im Netz (Suchmaschinen, Meta-Suchmaschinen etc.)
    Im Anschluss an die gemeinsame Sitzung können die Teilnehmer die Computer (und bei Bedarf die Betreuung) noch weiter nutzen, etwa um E-Mails abzurufen oder sich online über die Angebote des Arbeitsamtes zu informieren – oder auch dazu, um zuvor gemeinsam besprochene Sachverhalte aus dem Bereich Gesellschaftskunde durch gezielte Recherche weiter zu vertiefen.

Die mit diesen Bausteinen korrespondierenden Lernziele verfolgen:

  • zunächst Fortschritte in Verständnis, Gebrauch und Anwendung der deutschen Sprache,
  • um in weiteren lebensweltlichen Bezügen die erworbenen kommunikativen, sozio-politischen und multimedialen Kompetenzen individuell-biographisch umzusetzen
  • und in der Folge den Integrationsprozess erfolgreich zu initialisieren.

b. Modularisierung mediendidaktischer Bausteine

Die spezifische Situation der einwandernden Spätaussiedler erfordert didaktisch-pädagogisch eine besondere Feinfühligkeit im Hinblick auf den Umgang und die Vermittlung des Stoffes. Aus einem gänzlich anderen Kulturkreis stammend (Sibirien, Kasachstan), treffen die Spätaussiedler in der Bundesrepublik auf ein gesamtgesellschaftliches Gefüge, in dem einerseits der Zusammenhang von massenmedialer Überreizung, Werbung und Konsum eine unvergleichbar hohe Bedeutung und alltägliche Relevanz auch mit Blick auf Statussymbol und soziale Schichtung einnimmt11 (besonders jugendliche Spätaussiedler streben rasch danach, an der "Konsumgesellschaft" teilzuhaben); andererseits formiert sich hier im Gegensatz zur bisherigen Heimat die politische wie mediale Lebenswelt auf eine Weise, die die Kompetenz und das Engagement des Einzelindividuums in einem Maße herausfordert, an dem sich der Grad an Selbständigkeit und Emanzipation bemisst. Mehr als ihre Eltern bleiben deren Kinder von diesem Wandel betroffen: Die Heranwachsenden sind im Herkunftsland in der Regel sozial integriert gewesen und zeigen an einer Übersiedlung in die Bundesrepublik im Gegensatz zu ihren Eltern oftmals nur ein mäßiges Interesse. Die mangelnden Sprachkenntnisse verstärken den Bruch in der Sozialisation, der nicht nur zu Außenseitertum und psychischem Leid führen kann, sondern den Abstieg in die kriminelle Szene oft auch begünstigen hilft.12
Diese Situation erfordert von Seiten der Betreuung nicht nur sozialpädagogische Feinfühligkeit und interkulturelle Kompetenzen; die sprachlich-mediale Förderung hat darüber hinaus an der Anforderung anzusetzen, Deutsch als Alltagssprache und als Fachsprache zu vermitteln.
Das Konzept der drei aufeinander aufbauenden und ergänzenden Bausteine "politische Bildung", "sprachliche Schulung" und "mediale Förderung" kommt diesen Ansprüchen nach und hat sich als sinnvolle Maßnahme zur Integration bewährt.

  1. MODUL "politische Bildung"
    Der Baustein "politische Bildung" eröffnet jede Sitzung. Zuvor werden bei Bedarf herausragende persönliche Erlebnisse oder Erfahrungen besprochen, die einzelne Teilnehmer unter der Woche mit Behörden, Ämtern, Vorgesetzten, Lehrern oder Eltern sammeln konnten. Das Forum bietet weiter die Möglichkeit, auf spezielle Veranstaltungen für (jugendliche) Spätaussiedler hinzuweisen. Die nachfolgende Überleitung zu wechselnden Themen aus dem Bereich Gesellschaft, Soziales und Politik orientiert sich sowohl an tagespolitisch aktuellen Ereignissen (etwa BSE-Krise, Umweltgipfel, BAföG-Novellierung, SIS – Stellen-Informations-Service des Arbeitsamts), Begebenheiten auf politisch-administrativer Ebene oder die Gruppe der heranwachsenden Spätaussiedler betreffende Neuregelungen als auch an Grundfragen und Grundlagen des hiesigen politischen Systems (Gesellschaftskunde). Die gemeinsam zu besprechenden Themen reichen von der Aufgabe und Bedeutung des Bundestags, Bundesrats, der Gesetzgebung sowie einzelner Ressorts des Kabinetts über Informationen zum Arbeitsmarkt, zur beruflichen Situation und Perspektive einzelner Sparten bis hin zu Fragen um den Bereich Freizeit, Massenmedien, Werbung und Konsum (Warnung vor Haustürgeschäften, Ratenkrediten und Versicherungsverträgen; Aufklärung über Lock- und Discount-Angebote, über die reißerische und kommerzielle Absicht mancher Medien; Bedeutung des Markenkults und -trends, sinnvolle Alternativen etc.). Neben der Erschließung der genannten Sachthemen verfolgt dieser Baustein das Ziel, gesprächsweise und didaktisch einfühlsam in lockerer Atmosphäre über die Alltagssprache hinaus eine kommunikative Kompetenz zu festigen.
  2. MODUL "sprachliche Schulung"
    Der Baustein "sprachliche Schulung" bildet den Kern der Förderung und zielt unter Anwendung teilnehmerorientierter Lese- und Sprachübungen auf die Festigung des Grundwortschatzes (etwa drei Unterrichtsstunden pro Woche). Die Unterrichtsarbeit erfolgt mit Folien, Computer und Internet. Mit Hilfe speziell entwickelter Software, die sich sowohl im Kontext "Deutsch als Fremdsprache" als auch auf die Belange der Spätaussiedler zielgruppenorientiert einsetzen lässt werden neben grammatikalischen Grundkenntnissen insbesondere syntaktisch-lexikalische Grundlagen der deutschen Sprache an Beispielen aus dem Alltagsleben vermittelt13. Zum Einüben von Artikeln, Verbformen in den Zeitachsen Präsens, Perfekt und Präteritum sowie Präpositionen und Adjektiv-Endungen stehen sowohl Lückentexte als auch Multiple-Choice-Aufgaben zur direkten Eingabe und Ergänzung am PC zur Verfügung. Die Form der Übungen ist im allgemeinen so strukturiert, dass das Material stets auf einen semantischen Kontext rekurriert, der Nähe zur Lebenswelt insbesondere der Heranwachsenden aufweist (Schule, Beruf, Freizeit, Familie, Disco, Sport, Mode etc.). Neben weiteren thematischen Einheiten (Sprichwörter; Sachtexte etwa zu Umwelt, Energie, Sucht, Mietshaus, Einkaufen, Ländervergleich, Urlaub, Errungenschaften des 20. Jahrhunderts etc.) handelt es sich auf sprachlich-grammatikalischer Ebene im einzelnen um:
    • Passiv- / Aktiv-Übungen in allen Zeitstufen
    • Präpositionen / Präpositionalergänzungen
    • Verben /stark + schwach) / reflexive Verben / Modalverben
    • Nebensätze (Relativ- / Konzessivsätze)
    • Konjunktiv / Konditional / Temporal
    • Komparativ – Superlativ
    • Subjekt-Objekt-Relation / Fälle
    • Negation (Verwendung von "nicht" und "kein")
    • Irrealer Vergleich (Vergleiche mit "als + Konjunktiv I / II oder "als ob + Konjunktiv II")
    • Wortschatzübungen / Redemittel: Partikel setzen / Meinung artikulieren, Argumente sprachlich erzeugen / Formen bilden ("hoch - groß – lang - kurz" etc.)
    • Präsens, Präteritum, Futur / Partizip I + II.

Die Übungen werden sowohl gemeinsam Satz für Satz bearbeitet als auch in Stillarbeit mit einer anschließenden ausführlichen Besprechung. Schwächere Teilnehmer arbeiten zunächst entweder hilfsweise mit einem der Betreuer zusammen oder bilden untereinander Zweiergruppen, da sich auf diese Weise weitere Hemmungen abbauen und Lernerfolge substantiieren lassen.
Die Sprachübungen auf der Ebene multimedialer Anwendung weisen den pädagogisch-didaktischen Nutzen einer teilnehmerorientierten Interaktivität auf:

  • Die Übungen lassen sich am Ende per Mausklick online auf Fehlerhaftigkeit auswerten und überprüfen.
  • Alternativ erfolgt die Korrektur auch nach jedem Abschnitt. Die Schüler wissen binnen Sekunden, in welchem Segment wieviele und vor allem welche Art von Fehlern sie produzieren.
  • Schwächere Teilnehmer haben neben der persönlichen Betreuung auch die Möglichkeit, sich bereits beim Bearbeiten der einzelnen Schritte Hilfe zu beschaffen, etwa wenn sich die einzusetzende Endung eines Adjektivs als unüberwindliche Hürde erweist: Per Mausklick wird jeweils vom System solange ein Buchstabe ergänzt, bis der Schüler wieder selbst weiter weiß.
  • Zunächst als "trocken" empfundene Sprachübungen erlangen durch konzeptionell eingearbeitete Links und weitere Verweise eine motivierende Unterfütterung, die die Lernenden in einen umfassenden thematisch-sachlichen Kosmos einwebt.14

Zur didaktischen Fundierung und Veranschaulichung des Lehr- und Lernstoffes trägt der vom Dozenten-PC aus gesteuerte Video-Beamer bei: Gemeinsame Übungen, Hinweise und Demonstrationen erzielen dadurch einen positiven Lerneffekte, dass die Lernenden die sachbezogenen Erläuterungen und Ergänzungen des Dozenten auf der Großbildleinwand plastisch nachvollziehen können.

  1. MODUL "Förderung multimedialer Kompetenzen"
    Der Baustein "Förderung multimedialer Kompetenzen" bleibt eng mit den Bausteinen "politische Bildung" und "sprachliche Schulung" verzahnt. Über die bereits genannten Fördermaßnahmen hinausgehend, entwickelt dieses etwa zwei Unterrichtsstunden umfassende Modul sowohl Fertigkeiten im Umgang mit Computer, Internet und Multimedia als auch mit entsprechender Software. Die Grundlagenarbeit erstreckt sich von der Vermittlung allgemeiner PC- und Peripheriekenntnisse über die Einübung häufig verwendeter Software (Word, Excel, Internet Explorer, Netscape Navigator, Photo Editor) bis hin zum themenbezogenen und praxisorientierten Einsatz diverser (Meta-) Suchmaschinen. Darüber hinaus umfasst das Modul den Bereich E-Mail (Einrichtung von E-Mail-Adressen; Netscape Messenger; Outlook Express) sowie der Umgang mit fach- und jugendspezifischen Chats und Diskussionsforen.15

c. Interaktives Lernen: Exemplarisches Lernmodul "Ökologische Phantasie"

Eine Lernmotivation gänzlich ohne spielerische Impulse herzustellen, lässt sich heutzutage insbesondere bei der Gruppe Jugendliche / junge Erwachsene kaum noch realisieren. Im Kontext unseres Projekts erwies sich in dieser Hinsicht die Partizipation an Multimedia und Internet per se als hilfreich. Die Praxis hat gezeigt, dass in den Lernzusammenhang eingewobene spielerische Elemente die Aufmerksamkeit und Begeisterung der Teilnehmenden zu steigern vermögen.16 Derartige Einsprengsel verstehen sich mithin didaktisch motiviert; sie reichen vom Internet-Suchquiz zu jugendrelevanten Themen über "Reihentext-Ergänzungen" mittels der untereinander vernetzten PC’s bis hin zum motivierenden Unterrichtsprojekt "Kettengeschichten schreiben": Das Projekt "1001 Nacht" des Goethe-Instituts Trieste in Italien wendet sich in diesem Sinne an Sprachstudierende weltweit17. Jeder, der eine gute Idee zur Weiterführung einer der angebotenen Geschichten entwickelt, kann einen oder mehrere Sätze online an das Institut senden, das die Texte kurzfristig sichtet, korrigiert und auf Wunsch mit Namensnennung auf der speziellen Website veröffentlicht. Die weltweite Veröffentlichung stärkt sowohl das Selbstbewusstsein als auch die Motivation, weiter zu arbeiten. Zur Auswahl stehen Geschichten rund um Freundschaft, Liebe und Abenteuer. Die Teilnahme ist recht einfach: Auf der entsprechenden Website lässt sich der Text mühelos in ein Online-Formular eintragen und absenden.
Auf der Grundlage der vom Goethe-Institut bereitgestellten Online-Geschichten entwickelten wir im Rahmen unseres Projekts speziell für die Lern- und Zielgruppe der heranwachsenden Spätaussiedler ein umfassendes Lernmodul zum Bereich "Ökologie"18. Das Thema "Ökologie" eignet sich für diese Gruppe besonders, da in ihren Herkunftsländern Fragen des Umweltschutzes keine Rolle spielen und sich von daher ein bedeutender Anknüpfungspunkt für die Integration in die hiesige Gesellschaft bietet.
Das exemplarische Lernmodul, das als Grundlage, Prototyp und Anregung für weitere kulturpädagogische Curricula mit jugendrelevanten Sachthemen bereitsteht, strukturiert sich in sieben aufeinander aufbauende und ergänzende Lernebenen, die im multimedialen Kanon sowohl die sprachlichen als auch die medialen Kompetenzen didaktisch abgestimmt zu der im Projektziel formulierten integrativen Einheit führen.19

1. Ebene ("freies Formulieren"):

Ausgehend von der Kettengeschichte zum Thema "Freundschaft – Ferienreise – Zug" konnten die Teilnehmer ihrer Phantasie zunächst freien Lauf lassen und die Geschichte individuell fortsetzen.

Didaktisch-methodischer Hintergrund / Lernziel:

  • Übung des Wortschatzes / Satzbaus
  • freies Formulieren (extemporieren; per