Solidarische Ökonomie

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Dorothea Engelmann, Email: engelmann_dorothea@hotmail.com.

Der vorliegende Text ist Teil der Diplomarbeit "Welches Potenzial haben Formen solidarischer Ökonomie zur Bewältigung von Armut und Ausgrenzung und welchen Einfluss können sie auf die Gemeinwesenentwicklung nehmen? (Betrachtung am Beispiel der Stadtteilgenossenschaft)" an der Katholischen Fachhochschule Freiburg (eingereicht am 31.12.2009)


1 Unterschiedliche Bezeichnungen für ein alternatives Wirtschaften

Während im internationalen Raum bereits seit einiger Zeit Alternativen zu derzeit aktuellen ökonomischen Theorien des globalisierten Kapitalismus diskutiert werden, entwickelte sich im deutschsprachigen Raum erst in den 1990er Jahren eine tiefgreifendere Debatte. Es geht um die Frage nach Existenzsicherung und Bedürfnisbefriedigung von Menschen, die im kapitalistischen System „überflüssig" geworden sind sowie um die Zukunftsperspektive von Gemeinwesen und Regionen, die im Standortwettbewerb nach wirtschaftlichen Kriterien durchfallen. Die erarbeiteten Alternativen differieren in ihrem Verständnis und normativen Akzentuierungen und weisen eine Begriffs-Vielfalt auf, die es hier zu klären gilt. Gemeinsam haben es diese alternativen Wirtschaftsformen zum Ziel, „von den alltäglichen Anforderungen der Lebensbewältigung und den sozialen Problemen ausgehend mit wirtschaftlichen Mitteln einen sozialen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, der sich am Bedarf des Gemeinwesens und an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet. Bei der „Wirtschaft von unten" [...] geht es unter Ausnutzung der lokalen Ressourcen um den Aufbau neuer reproduktionssichernder Kreisläufe."(Sahle/Scurrell: 8f.) Hierbei soll es um eine Rückbesinnung auf das Ursprüngliche des Wortes „oikos" (für das „ganze Haus") gehen, um eine Ökonomie, die personalisiert, remoralisiert und repolitisiert. Die Lebensbereiche und Teilsektoren sollen den Kapital- und Wachstumszwängen entzogen werden, indem sie bedarfswirtschaftlich organisiert sind. Das alternative Ökonomieverständnis ist im Sinne Max Webers wieder umfassender und geht auf alle Formen der Produktion und Reproduktion menschlicher Lebensbedingungen ein, „einschließlich der Eigenarbeit und Hausarbeit, also sowohl sichtbare wie unsichtbare Ökonomie." (Vgl. Klöck: 13)

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Abbildung 8:
Veranschaulichung der Verortung der Lokalen Ökonomie (Vgl. Birkhölzer, 2000: 18)

Lokale Ökonomie

Der Begriff der Lokalen Ökonomie stammt aus der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre und befasst sich mit dem Ort als Wirtschaftseinheit. Lokale Ökonomie bezeichnet zunächst nur eine territoriale Zuordnung, die für alle Wirtschaftsbereiche gilt (Abb. 8): von der Privatwirtschaft, dem öffentlichen Bereich, über Non-Profit-Unternehmen und informelle Ökonomien (Klöck: 15). Die Lokale Ökonomie befasst sich mit der eigenen Dynamik lokaler Wirtschaftsstrukturen und ökonomischer Aktivitäten innerhalb eines überschaubaren Raumes. Grundlage der Lokalen Ökonomie ist das Milieukonzept, welches davon ausgeht, dass Wirtschaftsräume nicht beliebige Standorte sind, sondern spezifische wirtschaftskulturelle Milieus darstellen (Vgl. Elsen, 2004a). Außerdem wir ein Ort oder eine Region als Lebensmittelpunkt einer bestimmten Bevölkerung betrachtet (soziale Dimension), die natürliche Umgebung wird wahrgenommen (ökologische Dimension), ebenso wird die Tradition und Geschichte eines Ortes berücksichtigt (kulturelle Dimension). Der Blick wird auf die spezifischen endogenen Potenziale einer Region gerichtet, die nicht in den einzelnen Faktoren zu suchen sind, sondern in ihrer spezifischen Kombination (Synergie) (Vgl. Birkhölzer, 2000: 15f.).

Economie Sociale

Der Begriff der Economie Sociale hat französischen Ursprung. Das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaft verwendet in einer Studie (1993) folgende Definition: „Der Terminus Economie Sociale steht für die Gesamtheit der relevanten, komplexen und verschiedenartigen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die weder unter den herkömmlichen privaten noch unter den öffentlichen Bereich im strengen Sinne fallen."1) Ihr Kern sind die wirtschaftlichen Aktivitäten von Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften (mutuelités) und gemeinnützigen Vereinen in einem dritten Sektor neben Staat und Markt. Der Begriff der Economie Social wird insbesondere in der europäischen Diskussion gebraucht, weniger in der deutschsprachigen. Die „Charta der Economie Sociale" von 1982 definiert sie als sozialökonomische Reformbewegung, die in diesem Sinne auch über jede deutsche Auffassung hinaus geht: „[...] zwischen zügellosem Kapitalismus und bürokratischem Sozialismus, mit dem Ziel, Antworten auf die wirtschaftlichen Fragen der modernen Menschen zu finden, für die weder die herkömmlichen kommerziellen Unternehmen noch der Staat Lösungen bieten." (Zitiert aus Elsen, 2004a)

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Abbildung 9:
Entwicklungsperspektiven im Dritten Sektor (Vgl. Birkhölzer, 2000: 20)

Soziale Ökonomie

Die Soziale Ökonomie ist als Teil der Lokalen Ökonomie zu verstehen, die häufig mit dem „Dritten Sektor" als nicht staatlicher Non-Profitbereich gleichgesetzt wird. Die Soziale Ökonomie verfolgt eine eigene Logik wirtschaftlichen Handelns mit sozialer Zielsetzung und dient nicht der Fehlerbehebung von Markt und Staat. Sie ist geprägt von den Handlungsprinzipien Freiwilligkeit, Solidarität, Kooperation, demokratischer Organisation, Assoziation, Selbstorganisation und Gemeinwohlorientierung. Der Sektor wurzelt in der Zivilgesellschaft und erzeugt dadurch neue Möglichkeitsstrukturen, um Potenziale und Wirkung von bürgerschaftlichem Engagements für eigene und gemeinsame Bedürfnisse zu nutzen. Die Soziale Ökonomie unterscheidet sich von der profitorientierten gewinnmaximierenden Wirtschaft nicht durch die Gewinnerzeugung, sondern durch die Gewinnverwendung (Vgl. Elsen, 2004a). Zur Sozialen Ökonomie gehören Soziale Betriebe ebenso wie Bereiche der sogenannten „Schattenwirtschaft" (Abb. 9) wie informelle Initiativen, Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftshilfen, Tauschringe, Familienökonomie oder auch Formen illegaler und krimineller Ökonomie (Vgl. Birkhölzer, 2000: 16).

Solidarische Ökonomie

Die Solidarische Ökonomie steht insbesondere für kooperative ökonomische Selbsthilfe und Selbstverwaltung, beispielsweise in Produktiv-, Sozial- oder Solidargenossenschaften. Das Steuermedium Solidarität steht gegen die Dominanz der Gewinn- und Konkurrenzprinzipien als alleinige Steuerungsmodi ökonomischen Handelns. Solidarökonomie beruht auf Sozialkapital und erzeugt Sozialkapital durch Kooperation und solidarische Bewirtschaftung von Ressourcen. In Deutschland haben solidarökonomische Initiativen neben der Genossenschaftsbewegung und den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre keine weitreichende Tradition, einige wenige stehen jedoch „ohne politische Akzeptanz schutzlos im Gegenwind."(Vgl. Elsen, 2004a) Die Solidarische Ökonomie ist durch ihren Doppelcharakter geprägt, indem sie einerseits an die herrschende Wirtschaftsstruktur gebunden ist, andererseits darüber hinaus weist. Der Solidarökonomie geht es um die Demokratisierung von Wirtschaftsstrukturen zur Verwirklichung von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Menschen und deren Verfügungsrechte über die erforderlichen Produktionsmittel. Sie steht ein für den Abbau von Entfremdung und Selbstausbeutung und beabsichtigt „modellhafte Arbeitszusammenhänge und Produktionsverhältnisse innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu entwickeln, die sich in den Bedürfnissen der Menschen orientieren und in sozialverträglicher Weise Gebrauchswerte für sie schaffen, nicht nur Tauschwerte produzieren." (Klöck, 16)

Gemeinwesenökonomie

Die Gemeinwesenökonomie ist ein normatives und handlungsorientiertes Programm und weist eine enge Bindung an die Begriffe Moral- und Humanökonomie und Solidarische Ökonomie. Elsen versteht Gemeinwesenökonomie als erweiterter solidarischer Handlungsansatz, der über eine Mitgliederbezogenheit hinaus geht und einen sozialintegrativen Anspruch erhebt. Gemeinwesenökonomie ist ein sozial eingebundenes Wirtschaften im lokalen Kontext und orientiert sich an der Bedarfsdeckung, Existenzsicherung und gesellschaftlichen Integration der örtlichen Bevölkerung. In Anlehnung an Klaus Novy spricht auch Elsen von einer sukzessiven Aneignung von Teilsektoren und Lebensbereichen, um sie bedarfswirtschaftlich bzw. genossenschaftlich zu organisieren. Damit wendet sich die Gemeinwesenökonomie gegen die Zerstörung der sozialen, ökologischen und ökonomischen Grundlagen eines Gemeinwesens und steht für die Einlösung von Partizipation, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Sie impliziert den Abschied vom Wachstumsglauben und eine Hinwendung zu einer qualitativen Gestaltung der Wachstumsrücknahme (Vgl. Elsen, 2004a). Es kann schließlich festgestellt werden, dass die Arbeitsfelder von Lokaler Ökonomie, Sozialer Ökonomie und Gemeinwesenökonomie Überschneidungen aufweisen, woraufhin Birkhölzer (2000: 17) zu der Schlussfolgerung kommt, dass Gemeinwesenökonomie überall dort entsteht, wo Elemente lokaler und sozialer Ökonomie zusammenkommen (Abb. 9). In Birkhözers Schema ist jedoch die Solidarische Ökonomie außen vor und wird eher als kleiner Teilbereich der Gemeinwesenökonomie betrachtet. Es wird deutlich, dass es keine einheitlichen Begriffsdefinitionen gibt. In dieser Arbeit soll sich allerdings an den Begriffsverständnissen von Susanne Elsen orientiert werden.


2 Der Dritte Sektor – Bedeutung und Grenzen

2.1 Definitionen und Abgrenzungen

Der Dritte Sektor genießt seit einigen Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und Politik. Vielfältigste Erwartungen von Beschäftigungsmotor über Integration sozial Benachteiligter werden an ihn geknüpft. Dennoch bezeichnet Birkhölzer das Thema Dritter Sektor 2004 als weitgehendes wissenschaftliches Neuland und „terra incognita". Die Begriffe von Dritter Sektor, Drittes System, Soziale und Solidarische Ökonomie etc. sind schwer voneinander zu trennen, was nach Birkhölzer nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass diese „Konzepte in der Regel nicht am Schreibtisch entstanden sind, sondern in der Praxis von sozialen Bewegungen [...]".(Birkhölzer, 2006) Innerhalb einer Bestandsaufnahme des Dritten Sektors im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung stellen Birkhölzer, Kistler und Mutz den wirtschaftlich handelnden Teil des Dritten Sektors in den Vordergrund und grenzen ihn vom Ersten Sektor, der privaten und gewinnorientierten Wirtschaft und dem Zweiten Sektor, der staatlich bzw. öffentlich verfassten Wirtschaft, durch folgende Kriterien ab (Birkhölzer, 2004: 12):

  • es handelt sich um privatrechtlich verfasste Wirtschaftsunternehmen zur Realisierung sozialer und/oder gemeinwesenbezogener Zielsetzungen
  • sie entstehen aus Formen der Selbstorganisation bzw. Selbsthilfe von Bürgern, die sich von Risiken in der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Situation und/oder Mängeln in der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen betroffen fühlen
  • ihr wirtschaftliches Handeln ist den sozialen und/oder gemeinwesenbezogenen Zwecken untergeordnet (oder zumindest gleichgestellt) und folgt dem Prinzip des „not-for-private- profit-distributing"
  • das unternehmerische Handeln geht von einer gemeinschaftlichen, kollektiven oder kooperativen Basis aus

Der Dritte Sektor ist durch eine kooperative Organisationsform geprägt und verfolgt vorrangig soziale und gemeinwesenbezogene Zielsetzungen durch die Förderung bürgerschaftlich unternehmerisches Engagement. Erzielte Gewinne werden im Dritten Sektor gemeinwirtschaftlich verwendet (ebd.). Die Geschichte der Non-Profit-Organisationen hat nach Priller/Zimmer (2001: 14f.) zu drei prägenden Grundprinzipien des Dritten Sektors geführt: Selbstverwaltung, Subsidiarität und Gemeinwirtschaft.

2.2 Charakteristik Sozialer Unternehmen

Soziale Unternehmungen entstehen als Ergebnis zivilgesellschaftlichen und solidarischen Engagements von Bürgern aufgrund von als unannehmbar empfundenen Mängeln in der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Um regionale Ungleichgewichtungen auszugleichen, sind Soziale Unternehmen überwiegend ortsgebunden und in ihrer Zielsetzung und Angebot auf lokale und regionale Märkte gerichtet. Dies bringt vor allem zwei Herausforderungen mit sich. Die Nachfrageseite ist geprägt von einer mangelnden Kaufkraft, während bei den betroffenen Gruppen bzw. Gebieten auf der Angebotsseite der Mangel an Eigenkapital bzw. der Zugang zu Ressourcen erschwert ist. Aufgrund dessen sind betriebswirtschaftliche Kenntnisse und eigenständige Strategien von Nöten.

Soziale Unternehmen sind in hohem Maße von Engagement und Motivation ihrer MitarbeiterInnen abhängig, was eine starke innerbetriebliche Demokratie verlangt. Dabei geht es um Beteiligungen der MitarbeiterInnen an wirtschaftlichen Entscheidungen bestenfalls bereits im Gründungsprozess. Hier steht nicht der einzelne „social entrepreneur" im Vordergrund, sondern ein gemeinschaftlicher und kollektiver Gründungsprozess, „social entrepreneurship". Birkhölzer (Birkhölzer, 2006: 9) betont an dieser Stelle, dass das Genossenschaftsprinzip nicht an die Rechtsform der Genossenschaft gebunden sein muss, das Solidarprinzip kann auch in anderen Rechtsformen verankert werden (Partizipatives Management).

Das Soziale Kapital ist Quelle und Ergebnis eines „erfolgreichen" Sozialen Unternehmens. Dabei spielt der Indikator des Vertrauens eine besonders große Rolle. Verschiedene Fallstudien beweisen, dass Soziales Kapital produktiv verwertet und eingesetzt werden kann. Es ist sogar in der Lage, teilweise den Mangel an physischem und Finanzkapital zu kompensieren (nachholende Akkumulation).

Soziale Unternehmen beruhen auf einer gemeinschaftlichen Organisationsform, die neben den MitarbeiterInnen auch andere lokale Akteure bzw. Stakeholder einbezieht. Sie richten sich in der Regel mit ihren Produkten und Dienstleistungen an einen „Personenkreis, dessen (unversorgte) Bedürfnisse den Akteuren wohl bekannt sind, weil sie selbst oder ihre Angehörigen bzw. Mitstreiter zu den gleichen Personenkreisen gehören."(Birkhölzer, 2006: 9) Es kann durchaus vorkommen, dass Leistungen für „Dritte" getätigt werden, um die primären Leistungen zu unterstützen und mitzufinanzieren. In manchen Fällen sind Produzenten und Konsumenten identisch, in anderen Fällen gibt es nicht-produzierende Nutznießer und nicht-konsumierende Produzenten. Es wird deutlich, dass es sich hierbei um „Multi-Stakeholder-Unternehmen" handelt, deren Austauschbeziehungen sich nicht mehr einfach durch Produktion und Konsum beschreiben lassen. Die Beteiligten nehmen vielfältige Rollen ein, deren Beziehungen untereinander nicht durch marktförmige Austauschbeziehungen geregelt sind. Soziales Marketing kann ebenso wie Soziales Kapital zum Ausgleich wirtschaftlicher Benachteiligungen eingesetzt werden, wobei die lokale Verankerung wesentlich ist.

Soziale Unternehmen sind „not-for-private-profit-Organisationen", deren Hauptmerkmal nicht darauf beruht gemeinnützig zu sein und keinen Gewinn zu erwirtschaften. Vielmehr geht es um die Gewinnverwendung. „Im Vordergrund sozialwirtschaftlichen Handelns steht folglich nicht die Rentabilität des eingesetzten Kapitals, sondern eine effiziente Kostendeckung der angestrebten sozialen und/oder gemeinwesenbezogenen Zielsetzungen."(ebd.) Die finanzielle Absicherung und Kostendeckung Sozialer Unternehmen beruht auf die spezifische Strategie der Mischfinanzierung durch Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit am Markt, Einnahmen aus öffentlichen Mitteln und Zuwendungen in Arbeitszeit und/oder Geld durch Dritte. Der Erfolg ergibt sich dabei scheinbar aus einem ausgewogenen Verhältnis verschiedener Einkommensarten, wodurch einseitige Abhängigkeiten vermieden werden. Birkhölzer beklagt allerdings eine Reformbedürftigkeit der öffentlichen Finanzierung. Diese dürfe nicht alleinig aus Subventionen oder Zuwendungen bestehen, sondern es bedarf vielmehr modernisierte Leistungsverträge und eine Form der Auftragsvergabe, welche die spezifische Form der „Gemeinnützigkeit" Sozialer Unternehmen angemessen berücksichtigt (Birkhölzer, 2006: 10). Als unverzichtbare Ressource Sozialer Unternehmen muss freiwillige unbezahlte Arbeit betrachtet werden. Zum einen aus wirtschaftlichen Gründen, aber darüber hinaus auch als Verbindung zwischen den Unternehmen und Gemeinwesen. Dennoch ist das klassische Ehrenamt keine ernsthafte oder zumutbare Alternative zur Erwerbsarbeit, vielmehr geht es in den Sozialen Unternehmen darum, durch Investition von freiwilliger und unbezahlter Arbeit einen existenzsichernden und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz erarbeiten zu können (ebd.).

2.3 Entwicklungslinien des Dritten Sektors

Die Entstehung der Sozialen Ökonomie ist eng mit der Entwicklung sozialer Bewegungen verbunden, die in der Vergangenheit verschiedene Formen von Sozialen Unternehmungen hervorbrachte. Birkhölzer unterscheidet zwischen einer älteren (Genossenschaften, Wohlfahrtsorganisationen, Stiftungen und ideelle Vereinigungen) und einer jüngeren sozialwirtschaftlichen Bewegung seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zu letzterer zählt er u.a. Integrationsunternehmen benachteiligter Gruppen, Freiwilligendienste und -agenturen, Unternehmungen der Alternativ-, Frauen- und Umweltbewegung, Unternehmen der Selbsthilfebewegung und Nachbarschafts und Gemeinwesenökonomieinitiativen. Als Motive für diese Neugründungen Sozialer Unternehmungen werden eine praktizierende Gesellschaftskritik, ein Bewältigungsversuch der Massenarbeitslosigkeit und eine mögliche Einflussnahme auf die lokale Entwicklung betrachtet (Vgl. Birkhölzer, 2006).

In diesem Sinne ergibt sich die wesentliche Frage nach der ökonomischen, arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Bedeutung des Dritten Sektors und ob dieser den implizierten Hoffnungen gerecht werden kann.

2.3.1 Der Dritte Sektor als Wirtschaftskraft?

Der wirtschaftliche Stellenwert des Dritten Sektors ist größer als lange angenommen wurde. Das „John Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project" hat die weltweite Bedeutung des Dritten Sektors empirisch aus Zahlen belegt, die Mitte der 90er Jahre ermittelt wurden. Leider gibt es kaum aktuelle Erhebungen. Im Jahr 1995 hatte der Non-Profitbereich einen Anteil von 3,9 Prozent am BIP Deutschlands. Mit knappen fünf Prozent nahm de Dritter Sektor Teil an der Gesamtbeschäftigung, was gleichbedeutend für 2,1 Millionen beschäftigte Personen und 1,44 Millionen Vollzeitarbeitsplätze steht. Unter Berücksichtigung der in den Organisationen verankerten ehrenamtlichen und freiwillig geleisteten Tätigkeiten, die in der Regel bei volkswirtschaftlichen Betrachtungen unberücksichtigt bleiben, wird der wirtschaftliche Stellenwert des Sektors zudem noch größer (Priller/Zimmer, 2001: 15ff). Gegenüber eines stagnierenden Beschäftigungsniveaus des privaten Erwerbssektors weist der Dritte Sektor beachtliche Steigerungsraten auf, wenn auch in absoluten Zahl auf geringem Niveau. Zur strukturellen Besonderheit von NPOs gehört der geringere Rationalisierungsdruck, da sie im Gegensatz zu privatkapitalistischen Unternehmen, trotz eindeutiger Tendenzen zu einer Effizienzorientierung und Kommerzialisierung, nicht im selben Maße profitorientiert arbeiten müssen. Finanziert werden die Organisationen des Dritten Sektors aus Beiträgen und selbsterwirtschafteten Mitteln (32,3%), Spenden (3,4%), staatlicher Förderung, Sozialversicherungsleistungen und auch Freiwilligenarbeit (gesamt 64,3%)(ebd.).

2.3.2 Der Dritte Sektor als Jobmotor?

Die deutsche CIREC-Studie2) fand für das Jahr 1997 heraus, dass der Dritte Sektor bereits 1,86 Millionen Vollzeitarbeitsplätze bzw. 6,5 Prozent der Beschäftigten stellte. Durch den IAB-Betriebspanel3) konnte zwischen 1999 und 2000 ein Beschäftigungszuwachs von 4% festgestellt werden, wozu vor allem die Bereiche Gesundheit, Sport, Soziales und Kultur beigetragen haben (Birkhölzer, 2004: 16). Neben dem realen Beschäftigungszuwachs ist der Dritte Sektor quasi Hauptträger der aktiven Arbeitsmarktpolitik (bspw. durch die starke Verortung von Ein-Euro-Jobs). Den allgemeinen Zuwachs an Arbeitsplätzen im Nonprofit-Sektor erklären Zimmer/Priller (2004: 58ff) mit der Ausweitung des Bedarfs an Dienstleistungen wie z.B. Betreuungs- und Pflegeangeboten.

Der Dritte Sektor weist mit 25% einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigten im Vergleich zur Gesamtwirtschaft auf (11%). Die Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung ist auch hier eine typisch weibliche Domäne. Im Dritten Sektor macht sich ein Trend zur „Verberuflichung" bemerkbar, da circa 70% der befragten Organisationen4) als Arbeitgeber tätig sind, darunter zählen insbesondere die Bereiche Bildung, Internationale Aktivitäten und Wohnungswesen (Wagner: 38ff). Dennoch weist der Dritte Sektor zwei- bis dreimal so viele ehrenamtliche und freiwillige Mitarbeiter auf, deren Arbeit in der Wertschöpfungskette keine Berücksichtigung findet (Zimmer/Priller (2004): 58ff).

2.3.3 Der Dritte Sektor als Hoffnungsträger für die Integration Benachteiligter?

Die Soziale Ökonomie bzw. der Dritte Sektor ist zu einem Hoffnungsträger geworden als Instrument der Integration sozial ausgegrenzter und benachteiligter Personen, der Schaffung neuer und zusätzlicher Arbeitsplätze sowie für die Mobilisierung bürgerschaftlichen Engagements durch Partizipation und Empowerment. Will die Soziale Ökonomie diesen Ansprüchen gerecht werden, müssen Bedingungen zur Integration benachteiligter Menschen erfüllt sein. Die Integration erfolgt nicht in vorübergehende Arbeitsgelegenheiten, sondern in existenzsichernde und zukunftsfähige (Erwerbs-)Arbeit. Dabei spielt die Qualität der Arbeit eine wichtige Rolle, sie soll Nutzen stiften und für die Befriedigung unversorgter Bedürfnisse im lokalen Umfeld bieten, was mit einem Nachhaltigkeitsanspruch von Arbeit und einer neuen Bewertung von Arbeit einhergeht. Für eine aktive Teilhabe bedarf es einer Mobilisation von Eigenmotivation, Eigenverantwortung und Selbstorganisation, damit eine ökonomische Nachhaltigkeit sozialer Initiativen gewährleistet werden kann. Die Fähigkeit zur ökonomischen Selbsthilfe muss erlernt werden und bedarf einer systematischen Förderung und Unterstützung (Empowerment). Dafür ist die Gestaltung von Lernräumen und Möglichkeitsräumen erforderlich (Vgl. Birkhölzer, 2006).

Der bisherige Blick auf die Beschäftigungsstruktur lässt bereits auf das Integrationspotenzial der Sozialen Unternehmungen von gesellschaftliche bzw. am Arbeitsmarkt Benachteiligten schließen. Soziale Unternehmungen weisen folgende Kriterien auf (Birkhölzer, 2004: 17; ebenso Abb. 10):

  • ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Frauen (72% im Vergleich zu 43% im Durchschnitt aller Bereiche)
  • eine größere Erfahrung in der Beschäftigung mit älteren Mitarbeitern (52% statt 42% Gesamtdurchschnitt)
  • erheblich mehr Angebote für Teilzeitbeschäftigung, nicht nur für Frauen (40% statt 20% im Durchschnitt)
  • ein überdurchschnittlich hoher Anteil (55%) an weiterbildungsfördernden Unternehmungen

2.2.4 Grenzen des Dritten Sektors als „arbeitsmarktpolitisches Experimentierfeld"

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Abbildung 10: Beschäftigungsanteile im Dritten Sektor – Frauen, Teilzeit, befristete Beschäftigte, Mini- und Ein-Euro Jobber– nach Bereichen; Die Bezugsgröße für die Anteile Frauen, Teilzeitbeschäftigte, Befristungen und Minijobs sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte; die Bezugsgröße für Ein-Euro-Jobs sind die Erwerbstätigen insgesamt. Datenbasis: IAB Betriebspanel 1996–2008; hochgerechnete Werte (in Prozent) (Vgl. Dathe/Priller/Hohendanner (WZBrief Arbeit, 10/09)

Untersuchung aus dem Jahr 2009 von Dathe/Priller/Hohendanner (WZBrief Arbeit, 10/09) ergaben, dass der Dritte Sektor heute zwar keine nennenswerte Zahl an neuen Arbeitsplätzen mehr schaffe, aber auch nicht durch Arbeitsplatzverluste geprägt ist. Allerdings bestehe die Gefahr einer Transformation des Dritten Sektors in einen Niedriglohnsektor (Abb. 10). Nicht auszuschließen ist, dass Ein-Euro-Jobs das freiwillige Engagement oder die reguläre Beschäftigung negativ beeinflussen und sich die Qualität der sozialen Dienstleistungen verschlechtert. Hauptursache dieser Entwicklungen ist eine Veränderung der Beziehung von Staat und Drittem Sektor in den vergangenen Jahren. Dazu gehört eine stärkere Leistungsvergabe unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten bei gleichzeitiger Öffnung des sozialen Dienstleistungsmarktes für private Anbieter. Der daraus resultierende Kostendruck schlägt sich mehr und mehr in atypischen Arbeitsverhältnissen nieder. „Die Analysen zeigen, dass die Zahl der Beschäftigten im Dritten Sektor nicht mehr gestiegen ist, aber die Beschäftigungsstruktur sich stark verändert hat. Durch den hohen Anteil von Teilzeitbeschäftigung, befristeten Beschäftigungsverhältnissen und Ein-Euro-Jobs droht der Dritte Sektor an Attraktivität als Beschäftigungsbereich zu verlieren." (ebd.) Im Kapitel 1.3 konnte bereits aufgezeigt werden, dass zwar atypische Beschäftigung nicht mit prekären Beschäftigungsverhältnissen gleichzusetzen, der Anteil der prekären Beschäftigungsverhältnisse an den atypischen Beschäftigungsverhältnissen aber sehr hoch ist. Der Dritte Sektor trägt somit auch erheblichen zur Verschärfung von Armutsverhältnissen in Deutschland bei.

2.2.5 Zivilgesellschaftliche Relevanz des Dritten Sektors

Die Zivilgesellschaft als nicht-staatliche Handlungssphäre besteht aus einer Vielzahl pluraler, auf freiwilliger Basis gegründeter Organisationen und Assoziationen, die ihre spezifischen materiellen und normativen Interessen artikulieren und autonom organisieren (Vgl. Lauth/Merkel in Wagner: 16). Habermas weist den zivilgesellschaftlichen Organen die Rolle eines gesellschaftspolitischen Resonanzverstärkers zu, im Sinne eines Weiterleitens gesellschaftlicher Problemlagen an die Öffentlichkeit. Der Dritte Sektor hat dabei den Stellenwert einer zentralen infrastrukturellen Basis der Zivilgesellschaft, der den Raum für Selbstorganisation, individuelles Engagement und kollektives Handeln bietet. Der Dritte Sektor wird durch seine Veränderungs- und Entwicklungspotenziale als Motor gesellschaftlichen Wandels gesehen, dem großes partizipatives und emanzipatorisches Potenzial zugesprochen wird (Wagner: 16). Organisationen im Non-Profit-Bereich bringen die Fähigkeiten einer Gesellschaft zum Ausdruck, sich innerhalb gesetzlicher Rahmenbedingungen, aber außerhalb der staatlichen Hoheitsverwaltung, selbst zu organisieren. Dies ist ein Beitrag zur institutionellen Vielfalt und kann sich positiv auf die Innovationsfähigkeit moderner Gesellschaften auswirken. Aus der Perspektive des Dritten Sektors wird die Zivilgesellschaft als Raum der freien Tätigkeit der Organisationen und als Wirksamkeitsoptionen auf die Politikgestaltung verstanden. Zu den wichtigsten Merkmalen der Zivilgesellschaft zählen die Fähigkeit zur sozialen Selbstorganisation, die Herausbildung und Förderung von Gemeinsinn, die Entwicklung von bürgerschaftlichem Engagement und Kompetenz, zu deren Verwirklichung der Dritte Sektor einen erheblichen Beitrag leisten kann (Priller/Zimmer, 2001: 33ff).

Der Hintergrund dieser Bedeutungszuschreibung und auch Akzentverschiebung in Forschungsansätzen wird ebenso kritisiert wie gelobt. Diskussionen über Politikverdrossenheit, Legitimationsverluste und Steuerprobleme des Staates führen zu einem Bedeutungsgewinn zivilgesellschaftlicher Funktionen des Dritten Sektors. Düchting sieht dies vor allem in der Legitimationssicherung des politischen Systems begründet, das zur Lösung sozialer Probleme aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in der Lage sei (Vgl. Düchting in Wagner: 17). Es wird beklagt, dass intermediäre Non-Profit-Organisationen an Entschärfungen sozialstruktureller Interessenwidersprüche beteiligt sind und partizipative und emanzipatorische Entwicklungen eher verhindern als fördern (Vgl. Bauer in Wagner: 17). Historisch ist die Bedeutung von NPOs immer dann stark angewachsen, wenn die Homogenität einer gesellschaftlichen Formation aufbrach und Krisen der Vergesellschaftung hervortraten. Wenn die Bedeutung der Zivilgesellschaft politisch stark hervorgehoben wird, liegt es nahe anzunehmen, dass Kosten und Probleme staatlicher und wirtschaftlicher Maßnahmen auf die sog. selbstverantwortliche BürgerIn abgewälzt werden (Vgl. Bomheuer in Wagner:17f.).

Eine weiterführende Kritik und tiefgründige Auseinandersetzung zu dem Verhältnis Dritter Sektor und Zivilgesellschaft formuliert Adalbert Evers. Er macht darauf aufmerksam, dass die Gefährdungen und destruktiven Tendenzen aus rücksichtslosem Machtstreben oder Kommerzialisierung auch für die Zivilgesellschaft und den Dritten Sektor zutreffen: „Unziviles Verhalten konkretisiert sich hier vor allem in instrumentellen Orientierungen, die den Wert von ehrenamtlichen Tätigkeiten und demokratischer Partizipation vor allem an deren wirtschaftlichen Nutzen misst." (Evers, 2009)

2.4 Lokale Ökonomie des Dritten Sektors - Soziale Stadt und Neue Regionalökonomie

Es wurde verdeutlicht, dass der Dritte Sektor bezüglich seiner Integrationsfunktion an Bedeutung langfristig betrachtet an Bedeutung gewonnen hat, sich aber kaum zur Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit eignet. Zwar wachse die Dienstleistungsnachfrage, jedoch entwickelt sich die Finanzierung angesichts öffentlicher Mittel eher problematisch. Wenn sich der Dritte Sektor nicht zur gesamtgesellschaftlichen „Job-Maschine" entpuppt, werden mit ihm jedoch weiterhin große Hoffnungen auf regionaler und lokaler Ebene verbunden (Wagner: 47f.).

Die meisten Organisationen des Dritten Sektors sind prinzipiell im lokalen oder regionalen Bereich angesiedelt. Der Dritte Sektor entfaltet seine Wirksamkeit voralllem vor Ort. Nach Priller/Zimmer (2004: 76f.) verorten sich 64% der Dritt-Sektor-Organisationen primär im lokalen oder regionalen Bereich. Aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive geht es den Sozialen Unternehmen vor allem darum, Beschäftigung durch Innovation auf dem Gebiet sozial und ökologisch nützlicher Produktion bzw. durch Orientierung am lokalen oder regionalen Bedarf oder die Reaktivierung lokaler Wirtschaftskreisläufe zu schaffen. Grundlegende beschäftigungsfördernde Wirkungen werden unterschieden in (Vgl. Wagner: 50f.):

  • die direkte Schaffung von Arbeitsplätzen (die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen fördert die Beschäftigung anderer, Gegensatz des Phänomens jobless growth)
  • die indirekte Schaffung von Beschäftigung (Einbindung Sozialer Unternehmen in den Kreislauf von lokaler (Dienstleistungs-)Produktion und lokalen Konsum und lokaler Kaufkraft)
  • Angebot unterstützender Dienstleistungen durch Dritt-Sektor-Organisationen ermöglicht Zugang zu Beschäftigung
  • Aufbau effektiver Unterstützungsstrukturen beim Erschließen von Arbeitsplatzpotenzialen
  • soziale Integration benachteiligter Gruppen durch Unternehmen des Dritten Sektors

Selbst von den Dritt-Sektor-Organisationen und Sozialen Unternehmen, deren vorrangige Zielsetzung nicht auf die Eingliederung ausgelegt ist, sehen Birkhölzer/Kramer ein zusätzliches Potenzial der Lokalen Ökonomie, Benachteiligten neue Chancen zu eröffnen und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern. Vor allem im Prozess der Rekonstruktion von Krisenregionen wird der Entwicklung des Dritten Sektors eine Schlüsselrolle zugewiesen (Vgl. Birkhölzer/Kramer 2002 in Wagner: 52).

Auf dieses Potenzial der Lokalen Ökonomie baut auch das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt". Im Rahmen des deutschen Modells der kommunalen Sozialstaatlichkeit gehört es zu den zentralen Aufgabenstellungen kommunaler Politik, sozial ausgewogene Lebensverhältnisse auf der örtlichen Ebene sicherzustellen. Die Entwicklung von Arbeitsplätzen und Erwerbsmöglichkeiten nimmt einen besonderen Stellenwert in der Entfaltung einer Kommune und der materiellen Lage ihrer Bevölkerung ein. Das Handlungsfeld der lokalen Ökonomie bietet dahingehend eine Chance, Handlungsoptionen auf kommunaler und regionaler Ebene auszuloten. Die wirtschaftliche Lage einer Region wird einerseits durch gesamtwirtschaftliche Trends bestimmt, sie ist aber auch Resultat spezifischer regionaler und lokaler Entwicklungslinien. Markant für die Entwicklung der letzten 20 Jahre ist eine Zunahme der räumlichen Ungleichverteilung von Beschäftigungsmöglichkeiten. Als ursächlich für diese Verteilungsunterschiede muss zum einen der Prozess der Globalisierung genannt werden, wodurch bestimmte Branchen und Betriebe durch die zunehmende Standortkonkurrenz von räumlichen Verlagerungstendenzen betroffen sind. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt der EU ist dieser Prozess weiterhin beschleunigt worden. Darüber hinaus wird die räumliche Entwicklung durch den technischen Wandel, insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnologien, nachhaltig beeinflusst. Dies führt dazu, dass sich Standortvor- und -nachteile in einer stetigen Umwertung befinden. Es prägt sich somit ein immer stärkeres komparatives Standortverhältnis und Wettbewerbsdruck zwischen verschiedenen Regionen aus, die dadurch geprägt sind, inwieweit eine Anpassung an die sich verändernden Standortanforderungen gelingt (Hanesch/Krüger-Conrad: 7ff). Die Diskussion um die Entwicklungstendenzen lokaler Räume wird durch Forschungsansätze der neuen Regionalökonomie (new regionalism) und der Wirtschaftsgeographie geprägt.

2.4.1 Eine kritische Betrachtung Neuer Regionalökonomie

Der new regionalism ist keine geschlossen gesellschaftswissenschaftliche Theorie, sondern besteht vielmehr aus einer Vielzahl einzelner Ansätze. Entwickelt hat sich die neue Regionalökonomie in den 1980er Jahren durch Impulse aus den USA und wurde bis in die 90er weiter ausgearbeitet. Der Grundgedanke ist als Antwort auf die Globalisierungstendenzen und ihren Folgen zu betrachten und beruht auf die Rückbesinnung eines Wirtschaftens in der Region. Die Regionen sind in diesem Sinne nicht mehr nur „Resonanzkörper" gesellschaftlicher Entwicklungen, sie bilden Eigengestalt und Eigenlogik aus und stellen somit in ihrer Summe die Gesamtgesellschaft dar. Thematisch wird dies auch von der „Geographie der Re-Agglomeration5)" bearbeitet. Die Region wird als Basiseinheit gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet. Hierfür wird nicht der Raum mit seinen Ausstattungsmerkmalen zum wissenschaftlichen Gegenstand sondern das gesellschaftliche Handeln der Akteure und deren strukturelle Bedingungen im Raum. Im Wesentlichen geht es um die Formierung endogenen Potenzials im Raum durch „bottom-up-Prozesse" (ebd.: 57ff).

Durch die fortschreitende Globalisierung ökonomischer Prozesse steigt die Wettbewerbsintensität zwischen Unternehmen und somit auch zwischen Regionen. Für Unternehmen in hochentwickelten Ländern wird es notwendig, kontinuierlich Lernprozesse, Produkte und Produktionsprozesse zu verbessern, dabei spielt der Wissens- und Wettbewerbsvorsprung eine entscheidende Rolle. Technisch anspruchsvolle Produktion und komplexe Innovationsprozesse erfordern interaktives Handeln und gemeinsames Problemlösen zwischen Herstellern, Zulieferern und Abnehmern in der Wertschöpfungskette. Lernprozesse erfordern bestmöglich personengebundene Interaktion und Zusammenarbeit, für die räumliche Nähe besonders hilfreich ist. Durch den Zugang zu personengebundenem Wissen und daraus entstehenden Vertrauensverhältnissen, entwicklen regionale Produktionssysteme einen erheblichen Wettbewerbsvorteil und sichern die globale Wettbewerbsfähigkeit (Eckey: 3f.).

Es gibt zwei wesentliche theoretische Grundperspektiven, die zur Erklärung des Bedeutungsgewinns räumlicher Nähe beitragen: Kohärenz (Zusammenhang/Zusammenhalt) und Diversität (Vielfalt) sowie ökonomisch-funktionale Effizienz und soziale Konnektivität. Beide Perspektiven stehen für unterschiedlich theoretische Kontexte, müssen sich aber dadurch nicht ausschließen.

Cluster-Ansätze, spielen in der Regionalökonomie eine große Rolle. Sie betonen die Konzentration von Unternehmen entlang von Branchenkomplexen bzw. von Elementen der Wertschöpfungskette. Die Branche oder die Wertschöpfungskette erfährt durch die räumliche Nähe einen Vorteil. Das heißt, räumliche Nähe führt zur Optimierung des „Gesamtsystems" der Branchenproduktion, deren einzelne und durch die Arbeitsteilung hochspezialisierten Elemente eine Kohärenz erfordern: „Der entlang einer Wertschöpfungskette organisierte Produktionsprozess wird in den Ansätzen als ein kohärentes Gesamtsystem verstanden, bei dem die Arbeitsteilung zu einer Spezialisierung der einzelnen Tätigkeiten führt und der Ressourcenzugriff günstig und effizient organisiert ist." (Kröcher: 122) Die Verbesserung des ökonomischen Prozesses durch Kohärenz beruht also auf Homogenität und Spezialisierung. Kohärenz darf nicht als eine isolierte Faktorausstattung von Räumen verstanden werden, die Frage richtet sich danach, wie formale und informelle Interdependenzen organisiert werden. Notwendig für die Herstellung von Kohärenz ist eine gemeinsame Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl (ebd.:121ff).

Die Diversität versteht sich als Form räumlicher Nähe, die durch eine Vielfalt von Ressourcen gekennzeichnet ist, auf die Akteure kostengünstig zurückgreifen können. Dies erfolgt unabhängig von kohärenten Verhältnissen der Ressourcen zueinander. Die Diversität des Ressourcenzugriffs wird durch eine unmittelbare und potenzielle Verfügbarkeit einzelner Ressourcen geprägt, die nur in verdichteten Räumen (Agglomeration) existiert.

Kröcher systematisiert sechs Argumentationsstränge für die Erklärung des Bedeutungsgewinns räumlicher Nähe wie folgt (Kröcher: 127):

  • geringe Transaktionskosten mit der Zunahme zwischenbetrieblicher Beziehungen
  • Ausbau von Netzwerken mit den Kategorien Vertrauen und Kontrolle
  • Innovationsvorteile durch die Kategorie „tacit knowledge"6)
  • institutionelle und soziokulturelle Gründe mit der Einbettung in regionale Milieus, Institutionen und Netzwerkstrukturen
  • kognitive Gründe mit der Kategorie der räumlichen Identitätsbildung
  • Agglomeration mit der Erzielung externer Erträge

Hinzu kommt die höhere Interaktionswahrscheinlichkeit bei räumlicher Nähe, die zu einer größeren sozialen Nähe, zu einem wahrscheinlicheren Austausch von „tacit knowledge" oder zu einer wahrscheinlicheren Nutzung gemeinsamer Ressourcen und damit zur Erzielung externer Erträge führen kann.

Solange die Neue Regionalökonomie als Gegenpol eines neoliberalen globalisierten Wirtschaftens gesehen wird, sind zahlreiche Kritikpunkte festzustellen. Kröcher geht in seiner Ausarbeitung der Schwächen des new regionalism systematisch vor und bezieht sich auf die oben genannten Argumentationsstränge des Bedeutungsgewinns einer Regionalökonomie. Kröcher weist nach, dass im new regionalism eine Regionalisierung von theoretischen Gesellschaftskonzepten vorgenommen wurde, die auf der Basis von Nationalstaaten entwickelt ist. Zu kritisieren sei dabei die Raumbehandlung, die zu einer „Hypostasierung der Region"7) geführt hätte, dabei wird von der Annahme ausgegangen, lokale Orte und Regionen seien statisch und fixiert. „Dabei trägt diese Regionskonstruktion nicht nur als Kitt zur Stabilisierung des Kapitalismus bei, sie wird gleichsam auch in das grundlegende Wettbewerbsprinzip eingebunden."(Kröcher: 199)

Die transaktionskostentheoretische Begründung setze nach Kröcher an einem Automatismus an, wobei die Bedeutung räumlicher Nähe durch organisationale Desintegration und der sich herausbildenden territorialen Integration begründet wird. Doch die Voraussetzung der Desintegration und Dezentralisierung kann durchaus wegfallen, wenn beispielsweise eine räumliche Aufspaltung der Produktionsprozesse durch neue Technologien und Transporttechniken ermöglicht wird. So würde auch eine räumliche Aufteilung der Produktion effizient und rational erscheinen. Kröcher hält auch das Argument der Herausbildung von Netzwerkstrukturen, Vertrauen und Kontrolle für nichtig, da diese Kategorien erst in räumlicher Abwesenheit zum Tragen kämen. Der Argumentationsstrang der „tacit knowledge" scheint nicht mehr aktuell, da dies nicht unbedingt als lokales Wissen betrachtet werden muss, „vielmehr sind zeitliche Kopräsenzen vorstellbar, die keine nahräumliche Lokalisation erfordern."(ebd.:200) Darüber hinaus findet ein fortschreitender Rationalisierungs- und Standardisierungsprozess statt, dessen Zielsetzung es ist, Wissen zu kodifizieren und in verfügbare Informationen zu verwandeln, um sie räumlich transferierbar zu gestalten.

Die Wirkmächtigkeit übergeordneter Strukturen werden in den Ansätzen des new regionalism kaum berücksichtigt. „Abstrakte Marktprozesse und Akkumulationserfordernisse nehmen kontinuierlich Einfluss auf räumliche Strukturveränderungen, ohne dass diese angemessen zur Erklärung herangezogen werden."(ebd.:201) Es führt zu einer Ausblendung von Marktzwängen, ökonomischer Macht und den Staat als Struktur gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Kröcher kommt zu dem Schluss, dass Neue Regionalökonomie vor allem agglomerationstheoretisch, durch die Perspektive der Diversität und ökonomisch-funktionalen Effizienz, plausibel erscheint. Räumliche Nähe ist seiner Meinung nach, nur eine Möglichkeit und keine theoretisch zwingende Resultate aktueller gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklungen. Außerdem mangele es ihr an einer empirischen Fundierung (ebd.).

Es soll hier insbesondere herausgestellt werden, dass der neue Regionalismus sein Versprechen und Ziel der Stärkung von Partizipation und Selbstbestimmung als Gegenpol zu kapitalistischen Globalisierungsstrukturen so nicht einhalten kann. Die Betonung der räumlichen Nähe vernachlässigt die gesellschaftliche Dimension und meidet die Auseinandersetzung mit realen Interessensgegensätzen und Machtverhältnissen. Der new regionalism ist anschlussfähig an neoliberale Konzepte: „Statt eine Gegenmacht zu entwickeln, verfängt er sich in regionaler Standortlogik und wird damit zum Steigbügelhalter einer neoliberalen Wettbewerbsformierung." (Voß, 2009)

2.4.2 Lokale Ökonomie in der Sozialen Stadt

Dieser Wettbewerbslogik sieht sich auch die Regionalpolitik ausgesetzt, die eine regionale Wirtschaftsförderung anstrebt. Auf der einen Seite wird im Bereich der Wirtschaftsförderung eine maximale Effizienz angestrebt, auf der anderen Seite soll die wirtschaftliche Entwicklung der Region gleichmäßig gefördert werden. Setzt die Förderung in konzentrierten wachstumsstarken Regionen an, läuft diese Politik Gefahr, vorhandene ökonomische und soziale Disparitäten zu verstärken, anstatt sie abzubauen. Eine alternative lokale Wirtschaftsförderung könnte darin bestehen, im Rahmen einer 'Milieupolitik' brachliegende endogene Potenziale zu reaktivieren und die regionalen Produktmilieus zu stärken (Hanesch/Krüger-Conrad: 13).

Schwierigkeiten bestehen allerdings in dem Rückzug des Staates aus seiner sozialstaatlichen Regelungs- und Förderverantwortung, was gleichbedeutend mit einem zunehmenden Druck für die Kommunen einhergeht. Des weiteren müssen sich Kommunen auf immer geringere finanzielle Haushaltsressourcen einstellen. Für Hanesch/Krüger-Conrad stellt sich demzufolge die Frage, welche Rolle und Aufgaben die Kommune im Kontext des 'aktivierenden Sozialstaats' zukommen sollen. Diese Entwicklung wird darüber hinaus durch eine defensive Raumordnungspolitik verstärkt, die ihre Aufgabe traditionell in der nachhaltigen Verbesserung der Bedingungen für die Entwicklung einzelner Regionen sieht. Angesichts einer drohenden Überforderung und Handlungsverlust wurden in und für die Kommunen neue Steuerungsformen entwickelt, die auch im Handlungsfeld der Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung Anwendung finden. Dazu zählen Verfahren wie das New Public Management und eine neue 'kooperative Steuerung' (ebd.: 19ff).

Diese Verfahrensbeispiele bilden zentrale Elemente des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt". Ziel dieses Programmes ist es, einer drohenden sozialen Spaltung in den Städten entgegen zu wirken und eine nachhaltige Entwicklung in Stadt- und Ortsteilen mit besonderen sozialen, wirtschaftlichen und städtebaulichen Problemen zu ermöglichen. Die lokalökonomische Zielsetzung bezieht sich auf eine nachhaltige Entwicklung, Bürgermitwirkung und Förderung lokaler Wirtschaft, Arbeit und Beschäftigung (Vgl. Löhr). Neben vielfältigen Programmzielen zu einer Aufwertung und Verbesserung der physischen Lebens- und Wohnbedingungen, wird in der Lokalen Ökonomie eine Schlüsselfunktion gesehen. Die Zielgruppen des Programms „Soziale Stadt" zählen größtenteils zu den Verlierern von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen und stehen einem ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturwandel gegenüber, der neben der Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt auch zu einer Marginalisierung durch sozialräumliche Ausgrenzung führen kann (Hanesch/Krüger-Conrad: 22f.).

„Die Stärkung der Lokalen Ökonomie spielt in rund 60 Prozent der Programmgebiete eine Rolle und nimmt damit den dritten Rang bei den Zielnennungen ein."(Deutsches Institut für Urbanistik (DIFU), 2003)8) Tatsächlich werden nur wenige Maßnahmen umgesetzt (in 29% der Programmgebiete erfolgten Umsetzungen). Es scheinen Unsicherheiten über erfolgsversprechende Handlungsstrategien zu bestehen (ebd.). Die Umfrage des DIFU verdeutlicht, dass die lokale Wirtschaftsförderung „[als] Problem [...] nur gering wahrgenommen [wird], als Potential schon eher gesehen und bei den Zielen steht die lokale Ökonomie ganz oben. Maßnahmen zur Umsetzung dieses Zieles fehlen dagegen so gut wie völlig, und so ist es dann auch nicht verwunderlich, dass auf diesem Gebiet eher wenig Erfolge vermeldet wurden."(Löhr, 2004) In der Auswertung der DIFU Umfrage wird ersichtlich, dass die Umsetzung lokalökonomischer Maßnahmen stark von der Funktionalität der implementierten Handlungsansätze sowie des Wirkungsgrads des Quartiersmanagements abhängt. Wenn auf diesen Gebieten Erfolg erzielt werden konnte, wirkt sich das auch auf die Lokale Ökonomie aus (ebd.).

„In der Programmumsetzung zeigt sich jedoch, dass Lokale Ökonomie trotz eines Bedeutungszuwachses zu den eher schwierig umzusetzenden Handlungsfeldern der Sozialen Stadt gehört: Probleme, die auf überlokaler Ebene entstanden sind, lassen sich im Quartierskontext kaum lösen, und Wirtschaftsakteure sind bisher im Rahmen der Quartiersentwicklung nur schwer erreichbar. Notwendig sind daher die stärkere Einbeziehung der kommunalen Wirtschaftsförderung, eine gezielte Beteiligung von Unternehmerinnen und Unternehmern vor Ort, die Stärkung der ethnischen Ökonomie sowie die Berücksichtigung regionaler Kontexte der Wirtschaftsentwicklung." (Bundestransferstelle Soziale Stadt: Statusbericht 2008 zum Programm Soziale Stadt)

Mögliche Gründe dafür sind Schwierigkeiten bei der Operationalisierung entsprechender Ziele, die in den integrierten Entwicklungskonzepten festgelegt wurden, oder auch Fehleinschätzungen der tatsächlich im Gebiet vorhandenen Entwicklungspotenziale im Bereich Lokale Ökonomie. Generell wird davon ausgegangen, dass die Problemursachen in stärkerem Maße als bei anderen Handlungsfeldern vor allem auf überlokaler und überregionaler Ebene zu suchen sind.

Dem Kernproblem (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in den benachteiligten Quartieren konnten kaum arbeitsmarktpolitische Maßnahmen konzentriert entgegengesetzt werden. Als Hemmnisse werden vor allem eine nach wie vor subjektbezogene, also nicht auch sozialraumorientierte Ausrichtung der Arbeitsverwaltungen sowie Mittelkürzungen und die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik des Bundes gesehen. „Auf kommunaler Ebene kann eine zu starke Beschränkung lokalökonomischer Maßnahmen ausschließlich auf Programmgebiete hinderlich wirken, da beispielsweise räumliche Arbeitsmarktverflechtungen in der Regel die Gesamtstadt oder sogar die Region umfassen. Als problematisch für die Quartiersebene stellt sich heraus, dass insbesondere Wirtschaftsvertreterinnen und -vertreter (kommunale Wirtschaftsförderung, Kammern, lokale Gewerbetreibende) in vielen Fällen zur Gruppe der nur schwer erreichbaren Akteure gehören."(Bundestransferstelle Soziale Stadt: Statusbericht 2008 zum Programm Soziale Stadt)

Walther und Güntner (291ff) fragen nach einer programmatischen Überforderung der „Sozialen Stadt". Sie nehmen 2004 eine positive Aufbruchsstimmung war, sehen allerdings Entwicklungsbedarf in der institutionellen Einbettung und Umsetzung des Programms. Eindeutige Kritik richtet sich gegen die unausgereifte Ressortintegration und Mittelbündelung. Die Finanzierung durch Bund, Land und Stadt erfolgt nur wenig ressortübergreifend und unterläuft somit der Gefahr einer „Programmharmonisierung". Auf Landes- und Kommunalebene besteht mangelhafte Passfähigkeit, die zu Umsetzungsschwierigkeiten führen. Gerade auf Ebene von Bund und Ländern werden Nachbesserungen erwartet, wobei es nicht unbedingt um mehr Geld ginge, sondern um die Verfügbarkeit des Geldes: „[Es] dominieren die federführenden Ressorts, und eine strategische Ausrichtung in der Umsetzung fehlt. Es scheint, dass es bislang eher gelungen ist, die Grenzen zwischen öffentlichen und externen Akteuren zu überwinden als die Ressortgrenzen innerhalb der Verwaltung." (ebd.: 299) Es geht also darum, die Politik der „Sozialen Stadt" weiterzuentwickeln, und nicht das Programm.

In diesem Kapitel wurde deutlich, dass die Notwendigkeit eines Handlungsbedarfs im lokalen und regionalen Raum besteht und sich einerseits in wirtschaftswissenschaftlichen Theorien des new regionalism wiederfinden lassen oder in praxisorientierten Handlungssträngen des Programms „Soziale Stadt". Es stellte sich ebenso heraus, wie begrenzt sich die Bedeutung regionaler oder lokaler Ökonomie darstellt, solange sie als Maßnahme einer Standortoptimierung dient, um dem globalen Wettbewerbsdruck standhalten zu können. So ist die Lokale Ökonomie und somit auch die Soziale Ökonomie in neoliberalen Handlungsstrukturen gefangen, die keine bedeutungsvollen Veränderungen für die sogenannten „Modernisierungsverlierer" bieten. Im Folgenden soll auf das Potenzial der Solidarischen Ökonomie eingegangen werden, da sie, zwar kapitalismuskritisch, aber dennoch innerhalb dieses Wirtschaftssystems, Menschenbilder, Zielsetzungen und Prinzipien des Wirtschaftens oder das Verständnis von Arbeit hinterfragt und neue Perspektiven liefert.


3 Charakteristik und Forderungen einer Solidarischen Ökonomie

3.1 Zielsetzung und Anspruch

Es wird der Idee und vielfältigen Umsetzungen solidarischer Ökonomie nicht gerecht, sie als „Appell an die Barmherzigkeit" (Vgl. Passet) zu verstehen. Sie geht weit über ein „soziales und wirtschaftliches Füreinander" hinaus und ist gedacht als Mittel zur Existenzsicherung in Zeiten der Globalisierung und „der Erpressung durch die Welt-Marktwirtschaft und das private, meist international mobile Kapital."(Wallimann, 1998: 51) Die Solidarische Ökonomie versteht sich nicht in erster Linie als revolutionäre Bewegung, sondern als „Gegenökonomie" und „Gegengesellschaft mit Zukunft" (ebd.: 52).

Wallimann bezeichnet zwei Hauptgründe, die die Umsetzung solidarischer Wirtschaftsstrukturen notwendig machen. Zum einen erfährt das kapitalistische Wirtschaftssystem eine der tiefsten Krisen (Wallimann: 1998), die mit der Verlagerung von Kapital und Arbeitskraft von Industriestaaten in weniger industrialisierte Gesellschaften verbunden ist. Die Wirtschaftskrise führt zu einer Verschärfung von Armutsverhältnissen und fordert neue Strategien der Existenzsicherung. Zum anderen verweist Wallimann auf eine Vernichtung ökologischer Ressourcen durch die Industriegesellschaften, die überwiegend durch kapitalistische Strukturen geprägt sind: „Soll die Menschheit in der ihr gegebenen Natur mit den vorhandenen Energiequellen überleben, muss weniger Energie verbraucht und die Industrienationen gedrosselt werden. Weder das heutige, geschweige denn ein höheres Niveau der industriellen Produktion und des weltweiten Austauschs von Gütern lässt sich ökologisch halten." (ebd.:52) Zusammenfassend geht es also darum, die Ausbeutung gegenüber Mensch und Natur zu verhindern und ein alternatives solidarisches und nachhaltiges Wirtschaften anzustreben.

Solidarische Ökonomie versteht Wirtschaften im ursprünglichen Sinn als „Wirtschaften für das ganze Haus (oikos)". Ziel des Wirtschaftens ist die individuelle und gemeinsame Bedürfnisbefriedigung im Lebensumfeld vor Ort zu sichern. Das bedürfnisorientierte Wirtschaften geht von einer Befriedigung materieller Notwendigkeiten und ebenfalls einer Sicherstellung immaterieller Bedürfnisse aus, die eine gute Lebensqualität ausmachen. Dessen Umsetzung erfordert ein Umdenken, eine Absage an Leistungs- und Wachstumsdenken und "protestantischen Arbeitsethos" (Vgl. Möller/Peters, 1998). Dies ist nur möglich durch einen permanenten gesellschaftlichen Diskurs zur Gestaltung eines gemeinsamen Wirtschaftens und Arbeitens, der auf Vertrauen und Kommunikation aufbaut. Ziel eines bedürfnisorientierten, solidarischen Wirtschaftens ist es, Wirtschaften, Arbeiten, Lernen und Leben wieder zu verbinden mit der Absicht einer verbesserten Lebensqualität auf der Basis einer lokal orientierten und überregional vernetzten Selbstversorgung. Es handelt sich um Wirtschaften für das „gemeinsame Eigene" mithilfe aller gleichberechtigten Menschen entsprechend ihren Möglichkeiten. Eine eigenständige Existenzsicherung resultiert aus bezahlten und unbezahlten Leistungen für gesellschaftliche notwendige und ökologisch sinnvolle Arbeiten. Zusammenfassend schließt Möller einen Definitionsversuch anhand folgender Kriterien Solidarischer Ökonomie an (Möller, 2005: 23):

Solidarische Ökonomie fordert:

  • eine „gute Lebensqualität", die sich möglichst verbessert
  • Wirtschaften für ein 'gemeinsames Eigenes'
  • Wirtschaften für die Reproduktion des lebensbedürfnisorientierten Handelns
  • Verbindung von Wirtschaften, Arbeiten, Lernen und Leben, einschließlich des Wohnens
  • gleiche Rechte für alle, Mitbestimmungsanspruch an alle
  • Solidarität und gegenseitige Unterstützung
  • vernetzte basisdemokratisch organisierte Selbstversorgung
  • Existenzsicherung durch eigene, bezahlte, notwendige Leistungen
  • ökologisch sinnvolles Handeln

Möller betont eingehend, dass dies keine Zielvorgaben und Normen sind, die sich für alle Umstände festlegen lassen sondern gerade von den Akteuren einer Solidarischen Ökonomie zu entwickeln sind und aus einem Diskurs heraus entstehen: „Alle diese Normen zeichnen sich dadurch aus, dass sie diskursfähig sind. Z.B. „das gute Leben": Über das, was alles dazugehört, wenn wir von einer wünschenswerten Lebensqualität sprechen, können wir uns ziemlich leicht einigen [...]. Aber über das „Wie" der Ausgestaltung und die Maßstäbe zur Verteilung des Erarbeiteten ist ein Konsens schon schwerer zu erreichen, da gibt es massive Macht- und Interessenkämpfe, die uns auch nicht bei einem anderen wirtschaften erspart bleiben."(ebd.:23)

Im Gegensatz zu Gewinn- und Konkurrenzprinzipien steuert Solidarische Ökonomie durch Solidarität und generiert Sozialkapital durch Kooperation und solidarische Bewirtschaftung von Ressourcen, was die eigenständige Logik des Wirtschaftens ausmacht. Solidarökonomisches Agieren ist geprägt durch Handlungsprinzipien der Freiwilligkeit, Solidarität, Kooperation, demokratische Organisation, Assoziation, Selbstorganisation und Gemeinwohlorientierung. Monetäres Kapital hat dabei dienende Funktion (Elsen, 2007a: 34f.).

Zumeist wird zur ökonomischen Selbsthilfe in den Wohlfahrtsstaaten erst dann gegriffen, wenn bei einer lang anhaltenden Krise alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. Derzeit beziehen sich Formen Solidarischer Ökonomie zum Großteil auf die Bereiche Arbeit, Erhaltung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge und die lokale Kontrolle über Geld und lassen sich aktuell in folgenden Bereichen feststellen (ebd.: 40f.):

Unternehmen der alternativen Arbeitsorganisation gewerblicher Wirtschaft (Belegschaftsbetriebe), haben das Ziel Erwerbsarbeit vor Ort durch kooperative Betriebsübernahmen zu sichern

Bemühungen um die lokale Kontrolle von Geld in Form von Komplementärwährungen, lokalen Bankkooperativen und Investitionsfonds

Kooperative Unternehmen im Bereich alternativer lokaler Arbeitsmarktpolitik mit Personen, die am Arbeitsmarkt benachteiligt sind (Existenzsicherungsgenossenschaften)

Verbraucher-Konsumenten-Kooperativen an den Nahtstellen Stadt und Regionen

Produktivgenossenschaften überwiegend hochqualifizierter Kräfte, die im Markt oder öffentlichen Sektor keine sicheren Arbeitsplätze mehr finden und ihre Chancen im Markt gemeinsam verbessern, z.B. Ingenieurwesen, IT-Branche (Geistkapitalunternehmen)

Kooperativen und Fonds, die die öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge durch die lokale Bevölkerung gegen Kommerzialisierung sichern

Bewegungen zur Aneignung und selbstbestimmten Nutzung von Boden und Wiedergewinnung von Subsistenzmöglichkeiten in Städten (Bsp. Japan)

Konstruktion alternativer Geldsysteme, die lokale Wertschöpfung und soziale Integration fördern (Bsp. Japan)

Sozial-, Bildungs-, Kultur- und Gesundheitsgenossenschaften, die dem Abbau und den Qualitätseinbußen durch Privatisierung in diesem Bereich entgegen wirken sollen

Eher locker organisierte Projekte Solidarischer Ökonomie stellen ökonomische Zusammenschlüsse wie Umsonstläden, Tauschringe oder Lebensmittel-Coops. Auf diese Beispiele soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da sie eher an der Frage der Distribution orientiert sind. Auch globale Projekte wie Open-Source-Software (Linux, Mozilla, Open Office etc.) oder Wikipedia erfüllen die Kriterien der Solidarischen Ökonomie, werden aber ebenfalls in dieser Arbeit nicht weiter thematisiert9).

Es ist festzustellen, dass es kein einheitliches Konzept der Solidarischen Ökonomie gibt. Ihre Qualität als Alternative zum Neoliberalismus gewinnt sie, indem sie praktisch oder theoretisch den Anspruch auf Alleinherrschaft der kapitalistischen Wirtschaftsweise widerlegen. Solidarischer Ökonomie liegt ein grundlegend anderes Menschenbild zugrunde, als es der 'homo oeconomicus' der kapitalistischen Marktwirtschaft darstellt. Die Emanzipation des einzelnen kann nur mit anderen zusammen, nicht gegen sie, möglich sein. Es besteht der Anspruch von klein auf, kreative Fähigkeiten in Kooperation mit anderen entfalten zu können, nur so könne sich ein volles Arbeitsvermögen in einer herrschaftsfreien Umgebung und selbstorganisierten Zusammenhängen entwickeln (Voß, 2008: 63f.). An dieser Stelle kommt auch der gesellschaftliche Anspruch der Solidarischen Ökonomie zum Tragen. Es geht darum, Möglichkeiten und Lernräume für ein kooperatives und solidarisches Verhalten zu schaffen, bei dem soziale und kulturelle Werte einer Gesellschaft nicht nur auf ihren Marktwert reduziert werden. In seinem „Plädoyer für eine humane Wirtschaftspolitik" fordert Passet als Konsequenz des Weltsozialforums in Porto Algre, eine Förderung der freien Entfaltung individueller Phantasie, „und zwar wegen und nach der Maßgabe ihrer sozialen Nützlichkeit" sowie der Achtung eines Wertepluralismus als Fundament einer Demokratie. Einer unbeschränkten Herrschaft der Vernunft des einzelnen werden die Grundsätze einer „pluralen Ökonomie" entgegengesetzt. Hierbei betont Passet, dass eine marktorientierte Vernunft nicht radikal abgelehnt werden muss, jedoch die Vorstellung einer ökonomischen Wirklichkeit als alleinig von der Marktlogik bestimmt (Vgl. Passet).

Das Verständnis einer Orientierung auf den Nutzen statt auf Gewinn ist durch die Merkmale der Selbstorganisation, Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen und ein nachhaltiges Wirtschaften gekennzeichnet. Eine Solidarische Ökonomie ist für die Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft (Vgl. Voß, 2008: 63). „Aber wenn sich Mittel und Zweck verkehren und nicht mehr das Geld den Menschen dient, sondern umgekehrt die Menschen sich dem Geld untertan machen, dann wird die Vernunft zur Unvernunft, und die Welt versinkt in Absurdität." (Passet in „Nach dem Weltsozialforum von Porto Alegre", Le Monde diplomatique, 16.2.2001)

3.2 Historische Bezüge

Blickt man in die Geschichte der Solidarischen Ökonomien, ist es interessant herauszufinden, welche Motive der Entwicklung verschiedener Formen Solidarischer Ökonomien zugrunde lagen, welchen Bedingungen sie gegenüber standen und schließlich die Frage nach dem Erfolg.

Formen Solidarischer Ökonomie werden häufig als „Armutsökonomien" betrachtet, als „Kinder der Not". „Wenn Menschen auf ihre Lebenswelten zurückverwiesen werden, weil sie für die entgrenzte Ökonomie entbehrlich geworden sind, können und müssen sie sich in kooperativen und selbstorganisierten Formen sozialproduktiv zusammentun, um ihre Existenz zu sichern." (Elsen, 1998: 54) Elsen ist sich der Plausibilität dieser Argumentation bewusst, betont allerdings den hinter dieser Entwicklung stehenden langfristigen gesellschaftlichen Lernbedarf.

Die historischen Vorläufer der Solidarischen Ökonomie sind im Kontext der Genossenschaftsbewegung und der Settlementbewegung zu finden. „Genossenschaften seien „Kinder der Not" und Not mache erfinderisch, so heißt es immer wieder. Aber nicht jede Not führt zu einer Aktivierung der wirtschaftlichen Selbsthilfe. Eine unmittelbare Verknüpfung von wirtschaftlichen Krisen und Genossenschaftsgründungen zu postulieren wäre irreführend." (Klöck, 1998: 28)

Klaus Novy und Michael Prinz (1985: 12) setzten sich mit den historischen Formen Solidarischer Ökonomie auseinander und stellten gewisse Bedingungen oder Voraussetzungen zur Herausbildung und Entwicklung kollektiver ökonomischer Selbstorganisation zusammen. Nach Novy/Prinz wird erst dann zur wirtschaftlichen Selbsthilfe gegriffen, wenn andere Formen der Auseinandersetzung wie der politische oder gewerkschaftliche Kampf nicht oder nicht mehr greifen oder andere Angebote der „systemgerechteren" Reproduktionssicherung ausbleiben. Als Bedingung einer Herausbildung solidarischer Wirtschaftsstrukturen zählen Novy/Prinz ein hohes Maß an Organisationserfahrungen und Disziplin sowie ein Mindestmaß an finanzieller Selbstbeteiligung. „Wirtschaftliche Selbsthilfe in der Unternehmensform der Genossenschaft als solche sei keineswegs schon ein Stück Sozialreform." (Klöck, 1998: 29) Der Anspruch muss darin liegen, nicht nur Schwächergestellte wirtschaftlich zu fördern, sondern die Vorteile einer genossenschaftlichen Organisation prinzipiell verallgemeinerungsfähig zu gestalten.

3.3 Die Frag