Visionen einer multikulturellen Gesellschaft

(Manuskript des Vortrages bei der Jahrestagung Stadtteilarbeit 2003 "MigrantInnen im Stadtteil" am 21.11.03 in Hannover)

Eine der spannendsten Fragen, die sich unserer Gesellschaft gegenwärtig stellt ist, ob es uns gelingt, ein Dach zu formulieren, unter dem sich alle hier lebenden Menschen – egal welchen kulturellen, ethnischen oder religiösen Hintergrund sie haben – wieder finden können. Ein solches Dach muss über stabile Stützen verfügen, damit es Angriffe jedweder Art abwehren kann. Ich stelle mir schon eine Weile die Frage, wie unsere Gesellschaft reagiert hätte, wenn eine vergleichbare Katastrophe wie der 11.September 2001 sich hierzulande ereignet hätte und wenn die Täter ebenfalls aus dem Orient gekommen wären? Wie wäre es um den bereits jetzt beklagenswerten Zustand des Zusammenlebens zwischen eingewanderten Migranten mit muslimischem Hintergrund und der Mehrheitsbevölkerung bestellt? Wann würden die ersten Moscheen brennen?
Aus meiner Sicht hat das dabei nicht nur mit dem Islam zu tun, vielmehr geht es um den Umgang mit Kulturen in Deutschland, die als "fremd" erlebt werden. Die Reaktionen gegenüber Vertretern der jüdischen Gemeinde, die quasi für die Politik des israelischen Ministerpräsidenten Scharon in "Sippenhaft" genommen wurden, lassen erahnen, was hierzulande los wäre, wenn durch ein Ereignis eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ins Zentrum negativer Aufmerksamkeit geraten würde. Dabei muss noch berücksichtigt werden, dass durch die Folgen der jüngsten deutsche Geschichte und die zivilisatorischen "Bremsen", die durch Entnazifizierung, Bildungspolitik und einer Art Wächterfunktion der US-Medien ein großes Maß an Selbstkontrolle unter den Meinungsträgern in Sachen Antisemitismus vorhanden ist. Wie dünn jedoch diese Schutzschicht gegen den Antisemitismus ist, haben die vielen unterstützenden Reaktionen auf die antisemitischen Profilierungsversuche einzelner Politiker gezeigt, die vor allem darin bestanden, dass ihnen gedankt wurde, endlich das auszusprechen, "was alle denken". Wäre es dagegen vorstellbar, dass die BILD Zeitung und der Axel-Springer Konzern, der zwar lobenswerterweise den Antisemitismus verdammt und die Solidarität mit Israel zu den Redaktionsgrundsätzen erhoben hat, vergleichbares in Sachen Rassismus allgemein formulieren würde, insbesondere gegenüber Türken und Muslimen? Eine Antwort erübrigt sich. Es ist sicher kein Zufall, dass zwar der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Hohmann aufgrund antisemitischer Äußerungen die Fraktion verlassen musste, sein Fraktionskollege Nitzsche sprach zeitgleich folgendes zum Besten: "eher wird einem Moslem die Hand abfallen, als dass er bei der CDU das Kreuz auf dem Wahlzettel macht". Damit die Botschaft auch wirklich bei den Empfängern ankommt ergänzte er, "dass in unsere auf Pump finanzierten Sozialsysteme der letzte Ali aus der letzten Moschee Zuflucht nehmen könne". Hier werden kurz mal alle Muslime zu einer Gemeinschaft verrührt, egal ob Atheisten, "Teilzeitmuslime", Angehörige religiöser Minderheiten im Islam oder praktizierende Gläubige. Einmal Muslim, immer Muslim, ganz so, wie es sich auch Herr Bin-Laden wünscht, damit er endlich für alle Muslime sprechen kann. Der öffentliche Aufschrei blieb aus, die Medien sind zum Alltag übergegangen. Eine Äußerung innerhalb des "demokratischen Spektrums" der Bundesrepublik?
Eine gewisse Hierarchisierung von Kulturen, Völkern, Religionen scheint nicht auszurotten zu sein: Wenn ich die sehr unterschiedlichen Reaktionen auf gesellschaftlich ähnliche Phänomene wie beispielsweise die Jugendgewalt betrachte, kommen mir Zweifel über die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes oder des Diskriminierungsverbotes im Grundgesetz. Bei dem Serientäter Mehmet aus Bayern überschlugen sich fast alle mit der Empörung über soviel Aggressivität eines türkischen (!) Jugendlichen, der hier aufwuchs und hier straffällig wurde. Seine Abschiebung in die Türkei schien zum dringendsten innenpolitischen Thema zu werden, während deutsche Jugendliche, Kinder von urdeutschen Eltern, die kurz mal künftige Asylbewerberheime anzünden oder einen ebenfalls deutschen Jugendlichen wegen seiner Bekleidung (!) foltern und tot schlagen, als bedauernswerte Ausnahmeerscheinungen mit viel Verständnis rechnen können. Auch leidenschaftliche Anhänger von "law and order" mutieren dann zu verständnisvollen Jugendpädagogen mit einem großen Herz für die sozialen Umstände dieser bedauernswerten Kreaturen. Keine der Taten soll gegen die andere aufgerechnet werden und den Opfern ist es sicher egal, welche Muttersprache ihre Täter sprechen, aber die Reaktionen von Politik und Medien und leider auch der breiten Mehrheit in der Bevölkerung sprechen für sich!
Sicher, es ließe sich einräumen, die aggressive Berichterstattung über die Mehmets ist nicht repräsentativ für die gesamte veröffentlichte Meinung in Deutschland. Allein meine ganz persönlichen Erfahrungen sprechen eine andere Sprache, Erfahrungen übrigens, die andere Menschen mit nichtdeutscher Abstammung aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen durchgängig bestätigen können. Wäre es etwa in den USA vorstellbar, was vor nicht allzu langer Zeit in einem bedeutenden deutschen Nachrichtenmagazin aus Hamburg stand? Im Rahmen eines Porträts stand da über eine Eintrittsaktion der Grünen: "Özdemir brachte seine 42 Türken mit". Knapp 2,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass kennen diese hier bewusst gewählte Konnotation des Wortes Türke sehr genau. Dem Autor des Textes war es gleichgültig, dass es sich hierbei um praktisch ausschließlich eingebürgerte Bundesbürger handelte, also um deutsche Staatsbürger. In entsprechendem Kontext ist der "Türke" nichts anderes, wie früher in den USA der Begriff vom "Farbigen" oder "Neger". Das Fehlen einer starken Menschenrechts- und Migrantenlobby hierzulande ist gerade an dieser Stelle sehr zu beklagen. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Nicht nur in den USA würde der Journalist Schwierigkeiten haben, ein Blatt zu finden, das etwas Vergleichbares beispielsweise über einen afrikanisch-amerikanischen Kongressabgeordneten abdruckt. Ein Land, in dem eingebürgerte Nachfahren von Einwanderern - wie ich - "Passdeutsche" sind und das andere große "Nachrichtenmagazin" aus München einen deutschen SPD-Europakandidaten und bekannten Reiseunternehmer als "Türke mit deutschem Pass" bezeichnet, sollte sich nicht über "Integrationsprobleme" wundern. Es stellt sich zunehmend die Frage, wie es um den ernsthaften Willen dieser Gesellschaft und ihrer Verantwortlichen bestellt ist, Partizipation von Menschen anderer Herkunft zu ermöglichen. Die gefühlte und reale Durchlässigkeit in Führungspositionen bei Medien, Politik und Wirtschaft klafft in Deutschland für Migranten, aber auch für Ostdeutsche stark auseinander.
Kaum begreifen kann ich auch die Reaktion auf die Ergebnisse der Pisa-Studie, die bei uns im wesentlichen auf ein Problem schlecht deutsch sprechender türkischer Kinder reduziert wird. Um Berichte über deutsche Kinder zu finden, deren Lese-Kompetenz im Land von Goethe, Schiller und Lessing ähnlich niederschmetternd waren, muss man schon lange suchen. Wo bleibt eigentlich die Diskussion über die Gründe, warum in den schulisch erfolgreicheren Ländern ebenfalls die Migranten besser abschneiden? Oder sind die "Mehmets" in Deutschland nicht nur gewalttätig, sondern eben auch im Durchschnitt etwas dümmer? Zumindest eine gute Entlastung für konservative Bildungspolitiker.
Wie könnte eine positive "multikulturelle Vision" aussehen? Es muss den Mehmets, Giovannis und Olgas (Kinder und Jugendliche mit deutsch-russischem Hintergrund werden trotz vergleichbarer Probleme, dank deutscher Abstammung, in der Diskussion regelmäßig unterschlagen) möglich sein, Teil dieser Gesellschaft werden zu dürfen, ohne die Kultur der Eltern zu verleugnen und abzustreifen. Eine im Alltag längst angewendete Bindestrichidentität könnte ermöglichen, dass es einen "anatolischen Schwaben" genauso gibt, wie die russisch und deutsch sprechende Olga. Auf dem Weg in die Gesellschaft, die sich zu gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Amtsprache bekennt, bildet das Grundgesetz den Leitfaden. Religiöser Dogmatismus und Intoleranz gegen Andersdenkende haben dabei genauso wenig ihren Platz wie patriarchale und sexistische Unterdrückungsmuster, die unter dem rechtfertigenden Deckmantel der Religion entschuldigend versteckt werden. In der Bildung muss der Anspruch der Chancengleichheit unabhängig von der Muttersprache der Eltern und ihrem Bildungsgrad durchgesetzt werden, will man nicht in eine neue Klassengesellschaft verfestigen.
Deutschland benötigt viele multikulturelle Erfahrungen für die Herausbildung gemeinsamer Leitbilder und Prinzipien. Assimilationserfahrungen mit Hugenotten in Preußen und Polen im Ruhrgebiet sind nur bedingt geeignet für die Eingliederung von Einwanderern unter völlig veränderten Rahmenbedingungen und mit einer teilweise engen Anbindung an das Herkunftsland. Dabei wird es auch eine entschiedene Antidiskriminierungspolitik in Deutschland brauchen, die nicht als Spielart der amerikanischen "political correctness" abgewertet werden darf.
Es gibt ermutigende Zeichen für einen solchen langsamen Wandel. Wenn sich heute Betreuungsangebote immer stärker auf ein multikulturelles Klientel einstellen und eine muslimische Beerdigung hierzulande kein Kopfschütteln mehr hervorruft, wenn das erste Seniorenheim für die ergrauten ehemaligen Gastarbeiter längst Realität ist, sind dies nur Beispiele einer sich ändernden Gesellschaft. Die Politik ist angesichts dieser dramatischen Veränderung des Bedarfs nicht etwa mutig vorangegangen, sondern mit großer zeitlicher Verzögerung gefolgt – ich denke an das neue Staatsbürgerschaftsrecht aus dem Jahre 2000 oder an das lange diskutierte Zuwanderungsgesetz. Längst sind sich seriöse Experten darin einig, dass gesellschaftliche Phänomene wie Kriminalität oder Arbeitslosigkeit nicht vereinfacht auf ethnische Unterschiede reduziert werden dürfen. Das Benennen von Problemen und das Bereitstellen von Hilfsangeboten muss ohne Stigmatisierung erfolgen. Tabus, wie das Verschweigen von innerfamiliärer Gewalt und vormodernen Geschlechterstrukturen haben in einer emanzipativen Gesellschaft ebenfalls keinen Platz.