"Yes, we can!" – Barack Obama als Community Organizer

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Prof. Dr. Carsten Müller, Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Constantiaplatz 4, 26723 Emden, (Tel.) 04921 807 1237, Email: carsten.mueller@hs-emden-leer.de; Internet: http://www.dr-carsten-mueller.de

Dr. Carsten Müller (*1968) ist Professor für gesellschafts- und sozialpolitische Aspekte der Sozialen Arbeit am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Hochschule Emden/Leer. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a.: Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit, Erziehung und Demokratie, Sozialpolitik, Armutsbekämpfung, Gemeinwesenarbeit

Dieser Artikel ist im Original erschienen in: Sozial Extra,1/2 2009, Seiten 6-9. Der Digital Objekt Identifier (DOI) lautet: 10.1007/s12054-009-0002-y. Der Link lautet: http://www.springerlink.com/content/?k=doi%3a(10.1007%2fs12054-009-0002-y) Wir danken dem Verlag und dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf www.stadtteilarbeit.de


Am 4. November 2008 haben die Bürgerinnen und Bürger der USA einen neuen Präsidenten gewählt: Barack Obama (*1961) begeistert mit dem Versprechen „Wechsel" (Change) und der Ermutigung, diesen Wechsel gemeinsam zu schaffen („Yes, we can!") auch weltweit Millionen. Er wird nicht nur der erste schwarze US-Präsident, sondern auch wohl der erste Präsident mit einer Vergangenheit als Sozialarbeiter: Als junger Mann hat Obama mehrere Jahre in einem benachteiligten Stadtteil von Chicago als Community-Organizer (CO) gearbeitet.

Wahlkämpfe leben von Mythen. Obama haftet nicht nur der Mythos des Erlösers nach acht dunklen Bush-Jahren an. Vielmehr weist er wiederholt auf einen Wendepunkt seines Lebens hin: „Publicly, as well, Obama has made his organizing days central to his political identity. When he announced his candidacy for president last month, he said the 'best education' he ever had was not his undergraduate years at Occidental and Columbia or even his time at Harvard Law School, but rather the four years he spent in the mid-'80s learning the science of community organizing in Chicago" (Lizza 2007). Damals hat Obama drei Jahre im mit dem Untergang der Stahlindustrie herunter gekommenen Stadtteil „Altgeld Gardens" (vgl. Ostermann 2008) vor allem die afroamerikanische Bevölkerung organisiert. Weitere Quellen belegen, dass diese Erfahrung einen besonderen Stellenwert in seinem Leben einnimmt. Vielleicht darf diese Erfahrung sogar als politische Identität bildend angesehen werden.

In seiner Autobiografie „Dreams from My Father" ist der zweite und seitenstärkste Teil eben jener Lebensphase gewidmet: „1983 beschoss ich, Stadtteilarbeit zu machen. Ich verband keine konkreten Vorstellungen damit ... Stattdessen sprach ich von notwendigen Veränderungen ... Veränderungen kämen aber nicht von oben, sagte ich, sondern von unten, von einer mobilisierten Basis. Das also sei meine Idee: an der Basis arbeiten, in den schwarzen Stadtteilen. Damit sich etwas tut im Land" (Obama 2008: 147). Im Original von 1994 klingt diese noch deutlicher nach Graswurzeldemokratie: „Change won't come from the top, I would say. Change will come from a mobilized grass roots. That's what I'll do. I'll organize black folks. At the grass roots. For change" (nach Lizza 2007).

In Obamas politischer Programmschrift „The Audacity of Hope", welche nicht nur stilistisch postmoderne Züge trägt, taucht CO ebenfalls auf: „Aus dem Wunsch heraus, diese Werte (mit an einer Gemeinschaft zu bauen und Gerechtigkeit zu verwirklichen; d. Verf.) praktisch umzusetzen, übernahm ich in Chicago die Aufgabe des Community Organizers ..." (Obama 2008b: 266). Nicht zuletzt hat Obama bereits 1990 selbst zum CO veröffentlicht: „Eigentlich findet man die Antwort auf die ursprüngliche Frage – why organize? – bei diesen Leuten. Wenn man dabei hilft, dass eine Gruppe Hausfrauen dem Bürgermeister der drittgrößten amerikanischen Stadt am Verhandlungstisch gegenüber sitzt und sich behauptet ... erkennt man den wichtigsten und befriedigendsten Beitrag des Organisierens" (Obama 2008c: 9-10). Und schließlich kursiert im Online-Portal YouTube ein Video mit dem Titel „The meaning of Community Organizing". Das Video lässt die Wahlkampfkampagne, besonders deren Unterstützung durch Gruppen von Freiwilligen wie eine neue soziale Bewegung aussehen.

Die Zeit als Sozialarbeiter „ist eine Art Leitmotiv seiner politischen Karriere geworden" (Schoeller 2008). Umgekehrt gilt: „Die Geschichte über den Sozialarbeiter Obama nährt den Mythos von dem Politiker, der anders ist als alle anderen Politiker" (ebd.). So gesehen greifen Mythen-, politische und persönliche Identitätsbildung ineinander: „Community organizing is just an essential in understanding Obama" (York 2008).

Was ist Community Organizing?

CO ist nicht einfach deckungsgleich mit wohlfahrtsstaatlicher Sozialarbeit. Folglich wird Obamas Tätigkeit in Deutschland ganz unterschiedlich wiedergegeben. Das Berufsbild sei „gemischt aus Gewerkschaftsfunktionär, Agitator, Lehrer, Gemeindefunktionär und freiberuflichem Sozialarbeiter" (Schmitt 2008). Darüber hinaus lassen sich Streetworker, Gemeinwesenarbeiter usw. ergänzen. Auch der Gründungsvater des CO, der amerikanische Bürgerrechtler Saul David Alinsky (1909-1972) (vgl. Alinsky 1999; Szynka 2005), war diesbezüglich skeptisch. „Er war ein vehementer Kritiker des ‚welfare colonialism'" (Goede 2008a: 2). Anstatt fürsorglicher aber bevormundender Betreuung setzt CO auf Aktivierung, Empowerment und Selbstregulierung der Betroffenen.

Diese Tradition lässt sich tief in die Geschichte der USA zurückverfolgen. Bereits Alexis de Tocqueville machte in der Bereitschaft der Amerikaner, sich für die eigenen Belangen zusammenzuschließen, ein Kennzeichen der Demokratie aus. Die Wurzeln reichen zudem sowohl in die Geschichte der Bürgerrechtsbewegungen als auch in die Historie Sozialer Arbeit, etwa der Settlementbewegung um Jane Addams, zurück. Alinsky darf in diesem Sinn als radikaler Demokrat bezeichnet werden. Die von ihm erfundene Methode ist – knapp beschrieben – konfliktorientiert. Mit ihr soll Gegenmacht von unten (bottom up) aufgebaut werden. CO dient der Organisation von zumeist benachteiligten Gesellschaftsgruppen, u. a. mit dem Ziel, dass diese Macht (power) erlangen und Verbesserungen etwa ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen, z.B. in ihrer Nachbarschaft, durchsetzen.

Dazu folgt CO einem Organisationszirkel: Zuerst werden so genannte Eins-zu-Eins-Gespräche (one-to-ones) geführt. Hier sollen Beziehungen zu Menschen (relationship) aufgebaut und gleichzeitig deren Eigeninteressen (selfinterest) herausgefunden werden. Im zweiten Schritt werden eine oder mehrere Gruppen aufgebaut, die sich über gemeinsame Ziele verständigen. Dies mündet drittens in der Phase der Nachforschungen (research). Hierbei wird herausgefunden, durch welche Taktiken und Strategien (strategy) die Ziele zu erreichen sind. Dazu wird etwa analysiert, welche Machtverhältnisse bestehen, welche Schlüsselpersonen (leader) gewonnen werden müssen. Es wird herausgefunden, gegen welche Zielscheibe (target) mit welchen Mitteln Druck aufgebaut werden muss, um Erfolg zu haben. In einem letzten Schritt werden Aktionen geplant und wenn notwendig schrittweise eskalierend durchgeführt, um die Veränderungen auch gegen Widerstände durchzusetzen (eine ausführliche Beschreibung des CO bieten Müller/Szynka 2010).

Dieses Vorgehen ist zumindest in Amerika kein Einzelphänomen: Nach Schätzungen arbeiten zurzeit ca. 20.000 bezahlte Organizer in den Vereinigten Staaten. Große Organisationen, wie die noch von Alinsky gegründete Industrial Areas Foundation (IAF), organisieren Tausende.

Obama in Chicago

Mit einem anfänglich Jahresgehalt von ca. 10.000 $ findet Obama Anstellung im Developing Communities Projekt (DPC), einer Organisation im Dachverband der Calumet Community Religious Conference (CCRC), die vor allem katholische Kirchengemeinden zusammenschließt. Ein früher Mentor wird Mike Kruglik. „Obama was the best student he ever had. He was natural, the undisputed master of agitation, who could engage a room full of recruiting targets in a rapid-fire Socratic dialogue, nudging them to admit that they were not living up to their own standards" (Lizza 2008). Weitere Organizer, wie z.B. Jerry Kellmann, kreuzen seinen Weg: „Sieben Leitgedanken ... habe er dem ‚Grünschnabel' eingetrichtert: Erstens, höre den Menschen in deinem Stadtteil gewissenhaft zu. Zweitens, finde heraus, was das öffentliche Anliegen hinter ihren persönlichen Leidensgeschichten ist. Drittens, bringe die unterschiedlichen Menschen, die große Probleme, aber keine Macht haben, an einen Tisch. Viertens, hilf ihnen, Selbstvertrauen und eine gemeinsame Stimme zu finden. Fünftens, organisiere, falls nötig den Protest. Sechsten, führe sie mit ihren Gegnern wie etwa den Stahlunternehmen und den Wohnungsverwaltungen zusammen, damit sie einen Kompromiss finden. Siebtens, vergiss dabei nie, dass die Menschen für sich selber sprechen müssen. Als Community-Organizer leistest du nur Hilfe zur Selbsthilfe, bist Inspirator und Organisator, Sozialarbeiter und Vermittler, aber nicht Chef" (nach Klingst 2008:2).

In seiner Autobiografie gibt Obama eine nahezu vollständige, fast klassische Beschreibung eines CO-Prozesses. Es findet sich die Herangehensweise mittels Eins-zu-Eins-Gesprächen und der Ansatz an Selbstinteressen (vgl. Obama 2008a:168f). Es findet sich Passagen zu ersten Erfolgen durch Gruppenbildungen (vgl. ebd.: 238f). Es finden sich Beispiele für Nachforschungen und Aktionen (vgl. ebd.: 246f).

Die Aktivitäten kommen zu einem Höhepunkt, als festgestellt wird, dass die Wohnungen im Stadtteil mit Asbest belastet sind. Obama organisiert folglich den Kampf gegen die Wohnungsgesellschaft (vgl. ebd.: 246f). Mit folgendem Schlüsselerlebnis: Nachdem anfänglich nur wenig Bewohner zusammen kommen, um die Wohnungsgesellschaft zur Rede zu stellen, und obwohl sich die Offiziellen zunächst verleugnen lassen, gelingt es dennoch, erste Zusagen zu erhalten. Die Rückfahrt vom Treffen in einem gelben Schulbus wird zur Siegesfeier (vgl. ebd.: 253). In Anspielung an einen berühmten Ausspruch von Martin Luther King wird diese Busfahrt so bewertet: „... dieser ‚bus ride' wurde zum Kristallisationspunkt in Obamas Leben. ‚Jene Busfahrt ließ mich weiter machen, glaube ich, womöglich bis heute', sagt der Bewerber um das Weiße Haus. ‚I had a ride' – vielleicht wird dieser Satz später einmal, so wie ein ähnlicher, zu einem berühmten Ausspruch" (Goede 2008a: 5).

Dennoch scheitert der Kampf. Nach derartigen Erfahrungen schlägt Obama einen anderen Lebensweg ein. Er geht an die berühmte Harvard Law School. Auch dies stellt er als eine Konsequenz dar: Er will „Bürgerrechtsanwalt" werden (vgl. Obama 2008b: 459f). Damit hebt er die Auseinandersetzung um die Rechte von Benachteiligten auf eine höhere Ebene. So findet sich in Obamas Reden und Schriften wiederholt ein Hang zu Verfassungs- und Demokratiepatriotismus.

Das Ende der reinen Lehre?

An dieser Stelle zeichnet sich ein eigener Beitrag Obamas ab. Das reine CO entwickelt kaum eigene Wertorientierungen jenseits des Glaubens an die Demokratie. Dementsprechend ist ein gängiger Vorwurf, dass CO besonders hinsichtlich Machtgebrauch und Strategiemitteln ethisch indifferent bleibt. Diese vermeintliche Lücke füllt Obama mit Werten. An weiteren Stellen verlässt Obama das klassische Konzept. Sein Wahlkampf setzt CO-Elemente als Wahlkampfmittel ein. Ein Kritikpunkt daran ist: Das reine CO geht „bottom up" vor. Obamas Wahlkampagne wird indes vorgeworfen, dies auf den Kopf zu stellen: „Obama bleibt ein Top-Down-Organizer ..." (Goede 2008b). Er werbe um Zustimmung, anstatt Menschen zu helfen, ihre eigene Stimme zu erheben.

In Obamas Wahlkampagne (vgl. Goede 2008c) finden sich u. a. Eins-zu-Eins-Gespräche. Dabei handelt es sich aber weniger um einen Prozess des Zuhörens, sondern vielmehr um Folgendes: „Traditional organizing seeks to create local groups whose direction is determined by local leaders. Leaders elicit stories about the desires of many potential members, creating a broad network of relationships based in common goals. Obama's approach is essentially the opposite. Leaders go out in the community to tell people their stories in an effort to bring them over to Obama" (Schutz 2008).

Ein weiterer Aspekt ist ebenfalls kritisch: Obama wird der Vorwurf gemacht, er hätte einen Rechtsruck vollzogen und ursprüngliche progressive Positionen nivelliert. Dem entspricht: In seiner Chicagoer Zeit wird Obama als „bridge builder" (Moberg 2007a: 2), als Brückenbauer, beschrieben. Seine Auffassung von CO sei weniger konfliktorientiert, sondern vielmehr auf breite Allianzen angelegt. Obama verfolge eher den dritten Weg der „faith-based network of community organisations" (Moberg 2007b: 9). So gesehen kann die Nivellierung auch ausgelegt werden als der Versuch neue, breitere Allianzen zu gewinnen. „Since Obama became the presumptive Democratic nominee for President, he has been accused of moving to the center and flip-flopping on positions he adopted during the primary. This criticism misses the point. In the recent moves, Obama, the community organizer, is simply trying to build new alliances as he neutralizes threats to his power. It is the way any Chicago-trained organizer worth his salt would do" (Maki 2008: 4).

Ein letzter Aspekt: Es ist umstritten, inwieweit sich CO auf Parteipolitik einlassen soll und darf. Die reine Lehre empfiehlt eine gewisse Distanz zu diesen Bereichen. „In the Alinsky tradition, community groups typically don't get involved in electoral politics, and most traditional politicians do not want citizen groups that hold them accountable or do more than turn out votes (and money) for their reelection" (Moberg 2007b: 10). Befürchtet wird, dass dadurch Zwänge auftauchen. Obama sieht dies anders: „Obama rejected that dichotomy, not only encouraging and meeting with community groups but working closely with them to win legislation" (ebd.).

Fazit

Die Zukunft wird zeigen, ob es sich bei Obamas Erfahrungen als Sozialarbeiter nur um einen Wahlkampfmythos oder um die Wurzel für den Beginn eines neuen Politikstils handelt. Hinsichtlich Sozialer Arbeit ist nicht nur folgende Frage von Bedeutung: Kann ein Sozialarbeiter ein guter Politiker sein? (vgl. Klingst 2008).

Wichtiger ist m.E. die Frage: Kann und darf Soziale Arbeit Einfluss auf Politik gewinnen und nehmen? – denn: An einer neuerlichen Politisierung Sozialer Arbeit scheiden sich womöglich die Geister. Doch steht bereits jetzt fest: In Deutschland wird Community Organizing, nicht zuletzt durch die mediale Aufmerksamkeit auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, endlich deutlicher wahrgenommen (vgl. Cromwell 2005; Penta 2007). Dies macht Hoffung, dass Soziale Arbeit ihr politisches Mandat wieder gewinnen kann!


Literatur