Gemeinschaftshilfe Hertha Kraus

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Impulse für die soziale Arbeit Deutschlands aus den USA


Auf die massive materielle Not und die anhaltende psychische sowie soziale Zerrüttung konnte die Sozialarbeit in der Nachkriegszeit relativ einfach reagieren. Einerseits gab es die Nachbarschaftsheime, als früher Träger Gemeinwesenbezogener Sozialarbeit, andererseits entstand ein neues Gemeinschaftsgefühl, das sich über den Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands definierte. Diese anfänglichen sozialen Initiativen wurden meist von der Religionsgemeinschaft der Quäker initiiert. Quäker, die sich selbst auch als "Gesellschaft der Freunde" bezeichnen, sind eine christliche Sekte, die der Engländer George Fox im 17. Jahrhundert gründete. Charakteristisch für diese Religionsgemeinschaft ist das Ablehnen der kultischen Formen des Gottesdienstes der großen christlichen Kirche. Statt eines tätigen Gottesdienstes üben sie soziale Arbeit aus und treten für die Gleichheit aller Menschen ein. » Hertha Kraus, die selbst bekennende Quäkerin war, nahm einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Sozialarbeit in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg. Im Sommer 1950 stellte sie im Zusammenhang der Rekonstruktion der sozialen Verwaltung die Frage: Wie können Prozesse organisierter sozialer Hilfen in Deutschland auf eine deutlichere wissenschaftlichere Grundlage - vergleichbar mit denen in den USA, gestellt werden? Ihrer Meinung nach wurden im damaligen Nachkriegsdeutschland verschiedenste wissenschaftliche Methoden sozialer Arbeit geleugnet, so dass Fortschritte auf diesem Sektor nicht vorangetrieben werden konnten. Aus diesem Grund war es fast unmöglich, dass moderne Methoden wie Community Organizing, Case Work oder Group Work in die Lehrpläne von Hochschulen und Universitäten aufgenommen wurden. Das Problem bestand darin, dass es den Akademikern und Lehrenden schon an der Vermittlung der grundlegendsten Wissenschaften, wie Soziologie, Psychologie oder Anthropologie mangelte. Daher war es notwendig, die deutschen Akademiker fortzubilden, um die Lücken im Basiswissen zu schließen.
Hertha Kraus wusste als bekennende Amerikanerin um die Probleme der Bürgerbeteiligung in Deutschland, wo sie über Jahre hinweg eine » "Soziale Arbeitsgemeinschaft" in Köln leitete. Sie war sich sicher, dass die Abwesenheit spontaner und organisierter Bürgerbeteiligungen, im Gegensatz zu den USA, in Deutschland ein Faktum des Gemeinschaftslebens war und sah auch darin einen wesentlichen Grund für die schleppende deutsche Weiterentwicklung im sozialen Sektor. Weiterhin schätzte Hertha Kraus die Gestaltungsmöglichkeiten von Individuen und Gruppen der amerikanischen Gesellschaft höher ein, als vergleichbare in Deutschland. Schirrmacher beschrieb ihre Überzeugung, dass man den deutschen Weg als ebenso gültig ansehen müsse, solange von ihm eine inhaltliche zwar andere, im Prinzip aber durchdachte Kooperation zwischen den vielfältigen Gesellschaftsgruppen und zwischen Bürgern und Regierenden ausging (Schirrmacher, 2002, S. 30 f.).
Ein weiteres massives Problem, dem sich sowohl Hertha Kraus, aber auch andere Wissenschaftler stellen mussten, war der wachsende Widerstand gegenüber ausländischen Methoden und Erfahrungen. » Community Organizing of social welfare war eben ein unbekanntes Konzept und eine neue Methode in Deutschland. Deutsche Beobachter wurden häufig ausgemustert, wenn sie begeistert Berichte über das Geschehen im Ausland ablieferten. Gedruckte oder überlieferte Ansätze wurden zwar als interessant, aber als völlig unpraktisch und ohne Transferwert eingestuft. In diesem Sinne wurde dann auch häufig mit den amerikanischen Sozialarbeitsmethoden verfahren. Als Resultat dieser Entwicklungen sollten Auslandskontakte für und von deutschen Wissenschaftlern besser vorbereitet werden. Hertha Kraus versuchte dementsprechend in 4 Felder zu agieren:
  1. Unterstützung der Kontaktpflege deutscher Institutionen mit nicht deutschen Trägern von Wohlfahrtsmaßnahmen
  2. Nutzbarmachung des "Cultural exchance Programm" für Lehrende und andere Spezialisten des deutschen Wohlfahrtswesens
  3. Verbreitung ausländischer Literatur für die deutsche Wohlfahrtsarbeit
  4. Mitaufbau der deutschen Delegation für die beiden Sozialarbeitskonferenzen im Juli 1950 in Paris

1951 veröffentlichte Hertha Kraus in der "Sozialen Welt", in Deutschland zum ersten Mal nach dem zweiten Weltkrieg, einen Artikel zur Gemeinwesenarbeit mit dem Thema "Amerikanische Methoden der Gemeinschaftshilfe". Darin führte sie verschiedene methodische Grundlagen, die aber immer mit praktischen Beispielen hinterlegt waren, der damals bestehenden Gemeinwesenarbeit in den USA auf. Zusammenfassend wird beschrieben, dass durch Initiativen weniger Menschen, entweder spontan oder durch externe Stellen veranlasst, Arbeitskreise gebildet wurden, die sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Not und Hilfe innerhalb gewisser sachlicher und örtlicher Grenzen befassten. Primär wurden zuerst eigene Ziele definiert, die aber von der ganzen Gruppe (Arbeitskreis) getragen werden mussten. Um diese Ziele zu erreichen, war es notwendig Tatsachenmaterial zu beschaffen, welches zur Lösung von Problemen und zur Findung von Zielen unabdingbar war. Der Arbeitskreis beschäftigte sich in der nächsten Phase mit der Deutung des erarbeiteten Materials. Diese Phase schafft die Grundlage für zwei parallele Arbeitsvorgänge. Zum Einen die Gewinnung weiterer Interessenten oder Mitarbeiter, zum Anderen die Verbreitung von Kenntnissen über Art und Umfang der Not bzw. des Problems. Ziel bei all diesen Bemühungen ist es, eine Veränderung in gesellschaftlichen Hilfseinrichtungen hervorzurufen, die meist von relativ einfacher Art sind. Bei der Durchführung dieser Aufgaben sind zweifellos Schwierigkeiten und Probleme zu erwarten, die anschließend in Form der gemachten Erfahrungen in den Arbeitskreis zurückgetragen werden. Dieser löst sich entweder bei der Erreichung der Ziele, oder wenn nennenswerte Fortschritte zu verzeichnen sind, auf. Im Laufe eines solchen Projektes ist es kaum vermeidbar, dass vorgegebene Ziele revidiert, oder neu überdacht werden müssen, da diese Vorgaben am Anfang immer nur Arbeitshypothesen darstellen. Hertha Kraus ging letztlich davon aus, dass die Entwicklung eines Gemeinwesens vom ehrenamtlichen Engagement seiner Mitglieder lebt. Wichtig sind hierbei Kenntnisse über die Entstehung eines sozialen Raumes und insbesondere über Versorgungslücken, um mit den Bürgern, unter Einbeziehung von Professionellen, Veränderungen anzustreben.
Auf der Grundlage dieser Methodik sollten in der Nachkriegszeit die Nachbarschaftsheime wieder die Aufgabe der sozialen Arbeit übernehmen. Hertha Kraus regte schon 1943 die amerikanischen Quäker an, im Nachkriegsdeutschland Nachbarschaftsheime aufzubauen. Eines der bedeutendsten und ersten Nachbarschaftsheime nach dem Krieg, das auch von Hertha Kraus initiiert wurde, war das » Nachbarschaftsheim Mittelhof. Am Anfang stand die Hilfe gegen die Not im Nachkriegsberlin im Vordergrund. Mit einem "Conference – Center" versuchte der Mittelhof auch der intellektuellen Notlage nach zwölf Jahren Nationalsozialismus Abhilfe zu leisten. Dabei wurden die ersten internationalen Seminare und Kongresse nach 1945 organisiert, und damit den Deutschen die Möglichkeit eröffnet, Anschluss an die Entwicklung der Sozialarbeit im Ausland zu bekommen. Zwei Hauptziele standen im Mittelpunkt der Arbeit: Hilfe zur Selbsthilfe und Erziehung zur Demokratie.


Fragen zur Gemeinschaftshilfe:

  • Warum stellte es sich im Nachkriegsdeutschland als schwierig heraus, neue methodische Grundlagen der sozialen Arbeit zu etablieren?
  • In Folge des Widerstandes gegen die Einführung amerikanischer Methoden der Sozialarbeit, versuchte Hertha Kraus mit verschiedenen Maßnahmen dem entgegenzuwirken. Wie wollte sie dies Verwirklichen?
  • In ihrer Veröffentlichung "amerikanischen Methoden der Gemeinschaftshilfe" beschreibt Hertha Kraus verschiedene methodische Grundlagen praktizierender Gemeinwesenarbeit. Inwiefern konnten im damaligen Deutschland solche Ansätze erfolgreich praktiziert werden?