Zur Theorie und Methode einer Stadtteilanalyse


Über gesellschaftliche Konflikte und Herrschaftsbeziehungen auf der Mikro-Ebene einzelner Stadtteile ist in der Regel wenig bekannt. Insbesondere wenn es darum geht, entsprechende analytische Konzepte zu entwickeln, die im Rahmen von Stadtteil-Arbeit Anwendung finden können, gibt es trotz der erneuten Konjunktur von "Sozialraumanalysen" (vgl. Riege/’Schubert 2002) kaum Hilfestellungen. Unser Versuch, einen hannoverschen Stadtteil in den Dimensionen von Konflikt und Herrschaft wahrzunehmen, soll hier zusammenfassend skizziert werden. Die Untersuchung war Teil einer im Rahmen des Bund-Länder-Programms "Soziale Stadt" erstellten Forschungsarbeit (vgl. Geiling, Schwarzer u.a. 2001) und ließ sich von der Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus und von dem in Hannover entwickelten Konzept der "sozialstrukturellen Milieuforschung" (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001) leiten.


1. Soziale Milieus und Felder

Das Konzept der "sozialen Milieus" war bereits 1893 von Émile Durkheim (Durkheim 1988) für die Analyse gesamtgesellschaftlicher Akteursgruppen eingesetzt worden. Sozialer Zusammenhalt und Abgrenzung resultieren nach diesem Konzept auf der Basis von in Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Berufsgruppe geprägten Beziehungen, in deren Verlauf gemeinsame moralische Regeln und gemeinsame Geschmacks- und Mentalitätsausprägungen entstehen, die jeweils typisch sind für einzelne soziale Milieus. Über lange Zeit war dieses Konzept in Deutschland hinter die primär auf ökonomische Dimensionen sozialer Ungleichheit setzenden Klassen- und Schichttheorien zurückgetreten. Angesichts neuer sozialer Ungleichheiten und verstärkter Anzeichen von Sozialstruktur- und Mentalitätswandel in den 1980er Jahren machte Stefan Hradil (Hradil 1987) das bereits in der Markt- und Meinungsforschung (Becker/Nowak 1982) praktizierte Milieukonzept wieder für die deutschen Sozialwissenschaften bekannt, weil es in der Verbindung objektiver und subjektiver Dimensionen eher in der Lage war, soziales und politisches Verhalten zu erklären und vorauszusagen.
Neben der sich dazu parallel entwickelnden und dabei die ökonomischen Dimensionen sozialer Ungleichheit überwiegend vernachlässigenden Lebensstilforschung etablierte sich die auf die Milieu- und Klassentheorie Pierre Bourdieus und auf die frühen englischen Cultural Studies (Williams 1963, Thompson 1963) beziehende hannoversche Milieuforschung (Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001). Mit qualitativen und standardisierten Methoden konnte sie einen großen Teil des sozialen Raums der Bundesrepublik nach sozialen Milieus explorieren. Die hannoversche Milieuforschung unterscheidet sich von anderen Ansätzen dadurch, dass sie die Milieuzugehörigkeit vom jeweiligen Typus des Habitus bzw. der Mentalität, im Sinne einer unabhängigen Variable, abhängig macht. Es wird dabei vom Primat der Herkunftsmilieus und -familien ausgegangen. Dort werden nicht nur Statusressourcen ökonomischer, kultureller und sozialer Art bzw. Kapitals weitergegeben, sondern vor allem dauerhafte Lebensstrategien und Habitusmuster, mit denen soziale Stellungen gesichert oder erworben werden können und die mehr über Milieuzugehörigkeiten aussagen als wechselhafte soziale Stellungen.
Für die Frage nach den gesellschaftlichen Konfliktlinien und Herrschaftsbeziehungen ist die im Sinne einer sozialen Topologie raumorientierte Milieu- und Klassentheorie Pierre Bourdieus äußerst aufschlussreich. Denn sie erklärt soziales Verhalten mit Verweis auf die Spielräume, die sozialen Akteuren in ihren jeweiligen Umwelten zur Verfügung stehen (vgl. Bourdieu 1985). Spielräume werden danach bemessen, welche Stellung die sozialen Akteure in den hierarchisierten und mit je eigener Logik ausgestatteten Umwelten bzw. sozialen Feldern einnehmen. Den Kräften eines sozialen Feldes mehr oder minder hilflos ausgeliefert zu sein, heißt, eine untergeordnete Stellung einzunehmen. Die Möglichkeiten der eigenen Ressourcenausstattung sind dabei zu gering, um den mehrdimensionalen bzw. spezifischen Anforderungen und Kräften des Feldes widerstehen zu können. Hingegen verfügen Akteure dann über einen großen Spielraum, wenn sie auf Grund ihrer Ressourcen, seien sie ökonomisch, kulturell oder sozial, die Verteilungs- und Unterscheidungsprinzipien, nach denen sich die Umwelt strukturiert, in ihrem Sinn beeinflussen können. Zugleich sind nach der Theorie Bourdieus nicht einzelne Merkmale (Alter, Geschlecht, Beruf, Ethnie usw.) als Ressourcen der sozialen Akteure für deren soziale Stellung und Handlungsspielräume ausschlaggebend, sondern die Kombination dieser Merkmale und ihre Kompatibilität mit den spezifischen Anforderungen der einzelnen sozialen Felder.


2. Stadtteil als sozialer Raum

Ausgehend von der Frage, wie im Interesse eines gelingenden Quartiermanagements in einer von sozialer Benachteiligung gekennzeichneten Großwohnsiedlung auf die lokalen gesellschaftlichen Konflikte und Herrschaftsbeziehungen geschlossen werden kann, wurde der zu untersuchende Stadtteil in Anlehnung an Bourdieus abstrakten sozialen Raum rekonstruiert. Angenommen wurde, dass sich Beziehungen sozialer Nähe und Distanz im Zugang zu den "intermediären Einrichtungen und Institutionen des Stadtteils" (siehe Abb. 1) konturieren.

Abb. 1: Intermediäre bzw. kommunale, sozialstaatliche und bewohnergetragene lokale Einrichtungen in einem hannoverschen Stadtteil

Kommunale Einrichtungen

Sozialamt:

  • Stelle für allgemeine Sozialhilfe
  • Seniorenbegegnungsstätte, Seniorenbüro

Amt für Jugend und Familie:

  • Jugend-, Familien- und Erziehungsberatung

  • Jugendzentrum Camp
  • Kinderspielpark Holzwiesen

Kommunaler Sozialdienst:

  • Dienststelle Vahrenheide
  • Gemeinwesenarbeit
  • Jugendgerichtshilfe

Gesundheitsamt:

  • Sozialpsychiatrische Beratungsstelle

Schulamt:

  • Fridtjof-Nansen-Grundschule
  • IGS Vahrenheide-Sahlkamp
  • Herschelgymnasium

Kulturamt: (mit Stadtteilinitiative)

  • Kulturtreff Vahrenheide

Polizeidirektion Hannover:

  • Polizeistation Vahrenheider Markt
  • Kontaktbereichsbeamte

 

Einrichtungen der Gesellschaft für Bauen und Wohnen Hannover mbH (GBH)

  • GBH-Geschäftsstelle Vahrenheide
  • Betreute Altenwohnanlagen
  • GBH-Mieterservice
  • Mieterbeirat GBH

 

Einrichtungen des Deutschen Roten Kreuzes

  • DRK-Ortsverein Vahrenheide
  • Altenpflegeheim Dunantstraße

 

Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt

  • Emmy-Lanzke-Haus
  • Krabbelstube und Kita Emmy-Lanzke-Haus
  • Hort in der Fridtjof-Nansen-Schule
  • Spielmobil
  • Streetwork/ Jugendkontaktladen
  • LIFT/ Job-Börse

 

Einrichtungen der katholischen Kirche/Caritas

  • St. Franziskusgemeinde
  • Carl-Sonnenschein-Haus
  • Faschings-Club St. Franziskus
  

Einrichtungen der evangelischen Kirche/ Diakonie

Titusgemeinde
Kita Titus I und II
Soziale Gruppeninitiative e.V.

  • Jugendwerkstatt Vahrenheide
  • Werkstatt-Treff
  • Pro Beruf
  • Montage-Bau

Treff deutsche und ausländische Frauen
Diakoniestation Vahrenheide-Sahlkamp

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Sozialpädagogische Einzelbetreuung der evangelischen Jugendhilfe des Stephansstifts
"Kids-Club" vom Jugendverband der evangelischen Freikirchen
Evangelische Baptisten-Brüdergemeinde
Evangelische Christengemeinde

 

Vereine/Bewohnergetragene Initiativen

Bürgerinitiative Vahrenheide e.V.
Stadtteilinitative Kulturtreff Vahrenheide e.V. - Kulturtreff (auch öffentlicher Träger)
Nachbarschaftsinitiative e.V.

  • - Krabbelstube Simsalabim
  • - Nachbarschaftstreff
  • - Seniorenklub Russischer Nachmittag

Grünpflege Vahrenheide e.V.

  • - Grünflächenprojekt
  • - Grüne Boten
  • - Pro Sauber

FLAIS e.V. Förderverein Leben und Arbeiten im Stadtteil Vahrenheide

  • - Tauschring/ Fundgrube
  • - Bürger-Service

Wohnungsgenossenschaft Vahrenheide-Sahlkamp (VASA)
Mieterverein Klingenthal 6B
"Es tut sich was" MieterInnenverein Sahlkamphäuser 81 – 87 e.V. in Hannover
Alkoholkrankenselbsthilfegruppe "Gruppe 90"
Verein für Sozialmedizin Vahrenheide e.V.
Demokratischer Kulturverein e.V.
Schießsport Vahrenheide von 1967 e.V.
SV Kickers Vahrenheide e.V.
Sportverein Borussia e.V.
TUS Vahrenwald 08 e.V.
Eis- und Rollsportclub e.V.
Sportverein Wasserfreunde 98 e.V.
Kleingartenvereine

Es sind diese Orte der mittleren Vergesellschaftungsebenen, in denen sich die unterschiedlichen sozialen Milieus nicht nur repräsentiert und symbolisiert sehen, sondern über die sie sich auch mit anderen sozialen Milieus auseinandersetzen. Dementsprechend wurde ein Modell des stadtteiltypischen sozialen Raum (siehe Abb. 2) erstellt, das mit seinen Zonen sozialer Nähen und Distanzen zugleich über soziale Machtkonstellationen im Stadtteil Auskunft geben kann.
Die Vertikale des Raummodells positioniert die im Stadtteil vorfindlichen sozialen Lagen der Bewohnerschaft, während die Horizontale deren unterschiedliche Mentalitäten bzw. Habitus oder Dispositionen der alltäglichen Lebensführung abbildet. Vorausgesetzt und empirisch bestätigt wurde, dass in den verschiedenen Stadtteileinrichtungen jeweils spezifische Verhaltenserwartungen, Wertvorstellungen, Stile und Praktiken der Kommunikation vorzufinden sind. Dies beginnt mit Verhaltens- und Umgangsweisen, die auf Grund geringer materieller und sozialer Ressourcen der Beteiligten auf Unterstützung ausgerichtete Anlehnungsstrategien bzw. "Mentalitäten der Notwendigkeit" begründen, setzt sich mit nach allgemeiner Anerkennung und "Respektabilität" strebenden Orientierungen fort bis hin zu "Mentalitäten des Besonderen", deren Praktiken und Anerkennungsstrategien soziale und kulturelle Kompetenzen der Hochkultur voraussetzen.
Nach entsprechender Maßgabe der sozialen Lage und der Mentalität wurde jede der Einrichtungen des Stadtteils gemeinsam von der Forschungsgruppe positioniert. Dabei handelt es sich um ein regelgeleitetes hermeneutisches Verfahren, in dem ausschließlich die beteiligte Forschungsgruppe auf ihr im Untersuchungsverlauf angehäuftes Wissen (Sozialstrukturanalysen, Experteninterviews, Begehungen, Teilnehmende Beobachtungen, Dokumentenanalysen) über den Stadtteil zurückgreift und konsensual entscheidet; so z.B. bei Fragen danach, welche sozialen Milieus ihre Kinder in welchen Tagesstätten betreuen lassen, oder wie die Vereine im Stadtteil sich nach Maßgabe der Kategorien der sozialen Lage und der Mentalitäten ihrer Mitglieder voneinander unterscheiden. Nach einer vorläufigen Einordnung der Einrichtungen erfolgte die endgültige Positionierung durch die Forschungsgruppe nachdem die Einrichtungen Schritt für Schritt alle zueinander in Beziehung gebracht worden waren. Die sich aus dem zunächst zweidimensionalen Raumschema ergebenden Darstellungszwänge sowie auch die Problematik der unterschiedlichen Logiken der einzelnen Einrichtungen (z.B. ALDI, Schulen, Parteien) wurden im Interesse der auf eine Gesamtbetrachtung der sozialen Beziehungen im Stadtteil zielenden Abstraktion bewusst in Kauf genommen.

Abb. 2: Sozialer Raum eines Stadtteils in Hannover
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In Abb. 2 sind Einrichtungen schraffiert gekennzeichnet, die überdurchschnittliche Anteile von Migranten zu ihren Nutzern zählen. Die grau unterlegten Felder verweisen darauf, welche Organisationen vergleichbare Zielsetzungen und Integrationsformen haben, wo alltagskulturelle Abgrenzungen verlaufen, welche sozialen Milieus eher sozial isoliert sind und welche Einrichtungen soziale Brückenfunktionen wahrnehmen. Die unterschiedlichen Rahmungen der Einrichtungen zeigen die Größe der in ihnen verkehrenden Personenkreise an. Der soziale Raum dieses hannoverschen Stadtteils mit etwa 9.500 Einwohnern präsentiert sich dabei als Muster von unterschiedlichen Feldern:

  1. Im "Feld der notwendigen Versorgung" (unten links) dominieren die sozialstaatlichen Einrichtungen und Inititativen für Kinder, Jugendliche und Senioren und dabei insbesondere für Nicht-Deutsche. Dazu gehören preisgünstige Geschäfte sowie auch Kioske, Bistros und Läden von Migranten. In diesem Feld bewegen sich zumeist Bewohnergruppen mit sehr niedrigen sozialen Standards.
  2. Im "Feld des pädagogischen Bestrebens" (unten rechts) bewegen sich ebenfalls Angehörige prekärer sozialer Lagen. Allerdings sind die dortigen Einrichtungen darauf ausgerichtet, berufliche Qualifizierungen zu vermitteln und nachzuholen sowie mit Hilfestellungen von professioneller und etablierter Seite den Betroffenen zu respektablen Lebensperspektiven zu verhelfen.
  3. Im "Feld der traditionalen Respektabilität" (oben links) dominieren die Traditionsvereine der zumeist älteren Deutschen. Dazu gehören einige wenige Fachgeschäfte, die katholische Kirche und die CDU. Hier überwiegen die relativ wenigen Angehörigen des bürgerlichen Milieus und des traditionellen und kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus, die den Stadtteil mit aufgebaut haben und sich heute in der Defensive wahrnehmen. Abgrenzungen werden deutlich zu den Migranten und zu den Kindern und Jugendlichen des Stadtteils, die sich in den unteren Feldern repräsentiert sehen.
  4. Im (oberen mittleren) "Feld der sozialpolitischen Patronage" finden sich Einrichtungen und Organisationen, die im Stadtteil Hegemonie ausüben, weil sie die politischen Mehrheitsverhältnisse und die Agenda lokaler Diskussionen dominieren. Dazu gehören die SPD, die Wohnungsbaugesellschaft GBH, die Arbeiterwohlfahrt (AWO) sowie auch die evangelische Kirchengemeinde. In den alltäglichen sozialen Beziehungen stehen sie zur Bevölkerungsmehrheit im Stadtteil in relativer Distanz, gehören jedoch zu den Initiatoren und Unterstützern der Einrichtungen in den unteren Feldern.
  5. Im (oberen rechten) "Feld der konzeptorientierten Distinktion" sind politische Gruppierungen wie FDP, Grüne, Einrichtungen der Bürgerbeteiligung und auch das Gymnasium positioniert. Es handelt sich um relativ kleine Gruppen der lokalen Einwohnerschaft, deren engagierte Personen über umfangreiche soziale Kompetenzen, sprachliches Geschick und Selbstbewußtsein verfügen. Noch deutlicher als die Einrichtungen des Feldes der sozialpolitischen Patronage sind ihre Alltagsbeziehungen von sozialer Distanz zu den übrigen Einwohnern geprägt, auch wenn sie bereit sind, sich für den Stadtteil, allerdings vornehmlich aus ihren eigenen moralischen und politischen Perspektiven heraus, einzusetzen.
  6. In diesem Raummodell fallen Einrichtungen auf, die sich keinem der Felder eindeutig zuordnen lassen. Dies gilt beispielsweise für die "Sahlkamphäuser" (unten links), in denen stark unterprivilegierte Deutsche leben, ebenso wie für die "Baptisten" (in der Mitte rechts), die sich gegenüber der Stadtteilöffentlichkeit abschotten.
  7. Zwischen den Feldern vermittelnd sind Schulen, Qualifizierungsprojekte, Bürgerforum und Sanierungskommission platziert; so auch die Koordinierungsrunde, ein seit mehr als 20 Jahren bestehendes Gremium aus Mitarbeitern sozialer Einrichtungen. Es steht in relativer Spannung zu den hegemonialen Ansprüchen der Institutionen aus Politik und Verwaltung der oberen, insbesondere rechten Hälfte des sozialen Raums. Diese halten den sozialpädagogisch Beschäftigten nicht selten ineffektive und Vorschriften negierende Arbeit im Umgang mit den sozialen Problemgruppen vor, während jene umgekehrt eine von Politik und Verwaltung zu verantwortende mangelhafte Ressourcenausstattung beklagen.

3. Gesellschaftliche Konflikte und Herrschaftsbeziehungen im Stadtteil

Mit den rekonstruierten Strukturen des stadtteilspezifischen sozialen Raums lassen sich typische Konfliktlinien einer Großwohnsiedlung identifizieren:

  1. Das "Verhältnis zwischen Gesamtstadt und Stadtteil" ist davon geprägt, dass gesamtstädtische Probleme sozialer und ethnischer Integration von Politik und Verwaltung überwiegend in Großwohnsiedlungen konzentriert werden. Hier ist der Anteil von Wohnungen mit städtischen Belegrechten um ein Dreifaches höher als in der Gesamtstadt, und die Sozialhilfe- und Arbeitslosenquote der Bewohnerschaft in beträgt mehr als das Doppelte des gesamtstädtischen Durchschnitts. Der Anteil der Nicht-Deutschen im Stadtteil ist mit 30% doppelt so hoch wie im Stadtdurchschnitt. Auch liegt der Anteil von Kindern und Jugendlichen weit über dem in der übrigen Stadt, während der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten weit unter dem Stadtdurchschnitt angesiedelt ist. Hier bestätigt sich, dass die unverhältnismäßige Ballung sozial benachteiligter Menschen in Großwohnsiedlungen Ergebnis städtischer Entlastungsstrategien ist. Städtische Sanierungsversuche, über Privatisierung und familiengerechten Umbau von Wohnungen moderne soziale Milieus in den Stadtteil zu holen und gleichzeitig mit den Privatisierungserlösen Belegrechtswohnungen in anderen Stadtteilen aufzukaufen, zeigen angesichts der Stigmatisierung der Großwohnsiedlung und angesichts des in der Stadt entspannten Wohnungsmarktes keine Erfolge.
  2. Der Stadtteil ist von erheblicher "Binnen-Segregation" gekennzeichnet. In der Abstufung von Reihenhaussiedlungen, Zeilenbauten und Hochhauskomplexen zeigen sich extreme soziale Ungleichheiten, die das Zusammenleben im Stadtteil ungleich schwieriger gestalten als es aus gesamtstädtischer Perspektive vorstellbar scheint. Auf der einen Seite befinden sich einige wenige gut situierte, zumeist ältere Teile der Bewohnerschaft in relativ abgeschotteten Reihenhausquartieren, während in den Hochhauskomplexen sozial unterprivilegierte Gruppen auf engem Raum um notwendigste Lebensgrundlagen bemüht sind. Dazwischen bewegen sich in den Zeilenbauten auf Respektabilität bedachte ältere Angehörige der Wiederaufbaugeneration wie auch zunehmend in das Bildungs- und das Erwerbssystem integrierte Nicht-Deutsche. Bewohner aus modernen sozialen Milieus der gesellschaftlichen Mitte, die zwischen den unterschiedlichen, nicht selten gegensätzlichen Ansprüchen auf Gebrauch der von Funktionstrennungen geprägten öffentlichen Räume und spärlichen Infrastruktur vermitteln könnten, sucht man im Stadtteil vergeblich. Deren Funktion versuchen sozialstaatliche Einrichtungen und Initiativen zu übernehmen, die allerdings nur bedingt in der Lage sind, sich im Interesse der öffentlich schwachen, so genannten Problemgruppen gegen die Hegemonie der von den älteren Autochthonen beherrschten intermediären Institutionen durchzusetzen. Da es darüber hinaus Ressourcen lokaler Ökonomie im Stadtteil nie gegeben hat, reduzieren sich entsprechende Initiativen auf zeitlich befristete Beschäftigungsmaßnahmen in einfachen Dienstleistungsbereichen sowie auf Qualifizierungsprojekte, die auf Erwerbstätigkeit außerhalb des Stadtteils ausgerichtet sind.
  3. Des weiteren birgt die Großwohnsiedlung einen erheblichen "Generationenkonflikt", der sich im Verhältnis der beiden unteren Felder im Modell des sozialen Raums zum Feld der traditionalen Respektabilität andeutet. Kinder und Jugendliche repräsentieren die unteren sozialen Lagen im Stadtteil und erleben Formen der Vergemeinschaftung überwiegend in sozialstaatlich vermittelten Einrichtungen, die häufig überfüllt und für ihre Aufgaben schlecht ausgestattet sind. Allein die Schulen als Milieu übergreifende, weil alle Kinder des Stadtteils erreichende, Sozialisationsinstanzen eröffnen mit engagierter Arbeit und innovativen Erziehungskonzepten den jüngeren Generationen ein größeres Maß gesellschaftlicher Chancen. Die Altmieterschaft aus dem Feld der traditionalen Respektabilität scheint hingegen mit den Mentalitäten der jungen Generationen überfordert zu sein. Dementsprechend verstehen und gestalten sie ihre Einrichtungen eher als Rückzugsorte denn als auf den gesamten Stadtteil ausgerichtete Integrationsinstanzen.
  4. Der Generationenkonflikt wird zudem durch Formen der "ethnischen Segregation" überlagert. 31% Nicht-Deutsche aus mehr als 40 Nationen sowie 11% deutsche Aussiedler konzentrieren sich in den jüngeren Alterskohorten, während die autochthone deutsche Bevölkerung überwiegend in den älteren Geburtenjahrgängen anzufinden ist. In den oberen Feldern des sozialen Raums finden sich kaum Personen mit Migrationshintergrund. Insbesondere den zunehmend soziale und materielle Sicherheit gewinnenden türkischen Milieus fehlen öffentliche Orte und Gelegenheiten zu gesellschaftlicher und kultureller Repräsentanz. Mit Blick auf das Geschlechterverhältnis zeigt sich, dass insbesondere nicht-deutsche Männer in den intermediären Einrichtungen des Stadtteils fehlen. Lediglich der von Türken getragene "Demokratische Kulturverein" hat im sozialen Raum Berührungspunkte mit dem oberen mittleren Feld, insbesondere nach Unterstützung durch die Evangelische Kirche und einigen Sanierungsakteuren. Die katholische Kirche kann einen Teil der Aussiedlerbevölkerung integrieren, während die Baptistengemeinde und der russisch geprägte Seniorenklub an vergleichbaren Angeboten nicht interessiert sind.
  5. Grundsätzlich auffällig ist das erhebliche "Machtgefälle" im Stadtteil. Die in den oberen Feldern des sozialen Raums repräsentierten älteren Deutschen dominieren mit ihren Repräsentanten die lokale kulturelle und politische Öffentlichkeit. Sie stellen die in der Stadtteilsanierung aktive Bewohnerschaft dar, die in den Einrichtungen und Gremien, wie Sanierungsbüro, Sanierungskommission und Bürgerforum, ihre Distanz zum übrigen alltagskulturellen Stadtteilgeschehen aufrecht erhalten. Denn nur ein äußerst geringer Teil der Bevölkerung aus den unteren Feldern des sozialen Raums lässt sich für Beteiligungsangebote im Rahmen von öffentlicher Rede und Geschäftsordnung gewinnen. Dies betrifft auch die auf Bewohnerbeteiligung ausgerichteten Projekte "sozialer Sanierung", die mit den Problemen mangelnder Bereitschaft zum Engagement kämpfen. Angesichts der unterschiedlichen Interessen der äußerst heterogenen Bewohnerschaft werden diejenigen Aktiven, die nicht zu den Repräsentanten der deutschen Mehrheitsbewohner zählen, nicht selten auch noch als Vertreter von Partikularinteressen gehandelt. Dies passiert immer dann, wenn ihre Vorstellungen mit vermeintlich politischen und finanziellen Sachzwängen kollidieren, die häufig schon zuvor unter Ausschluss der in der Regel sprachlosen betroffenen Bewohnergruppen in unumstößliche Vorhaben und Planungen städtischer Politik und Verwaltung eingegangen sind. Aber auch beteiligungsorientierte Maßnahmen, wie die Einrichtung und der Ausbau integrativer Schulformen, sozialstaatlicher Betreuungseinrichtungen und diverser baulicher und sozialer Sanierungsinitiativen, stoßen an Grenzen, wenn es darum geht, den nicht-deutschen Ethnien und Kulturen Selbstdarstellungs- und Entwicklungsmöglichkeiten zuzugestehen. Dies betrifft sowohl die Gestaltung und Symbolik des öffentlichen Raums als auch Hilfestellungen bei der autonomen Gestaltung kultureller Handlungsspielräume. Diese werden trotz veränderter Mehrheitsverhältnisse aus den traditionellen hegemonialen Strukturen heraus, also von der relativen Minderheit älterer autochthoner Deutscher, definiert. Wird berücksichtigt, dass im Stadtteil nahezu ein Drittel der Bewohner über keinen politischen Bürgerstatus verfügt, zudem die Wahlbeteiligungen der übrigen Bewohnerschaft äußerst gering ist und 30% der Deutschen auf sozialstaatliche Transferleistungen angewiesen sind, ist vorstellbar, dass politische und gesellschaftliche Beteiligung in den Formen bürgerlicher Öffentlichkeit und Kompetenz hinter der Bewältigung alltäglicher Probleme zurückstehen müssen.

4. Schlussbetrachtung

Das hier vorgestellte Modell des sozialen Raums halten wir für grundsätzlich übertragbar, sofern es gelingt, soziale Strukturdaten mit qualitativ erhobenen Befunden aus Interviews, Beobachtungen, Begehungen und Dokumentenanalysen zu verbinden. Dabei wird es häufig einfacher sein, sich die Strukturdaten zu beschaffen, als sich der relativ zeitaufwändigen qualitativen Stadtforschung widmen zu können. Die in den beiden Raumdimensionen "Soziale Lage" und "Mentalitäten" zum Vorschein gebrachte Konfiguration sozialer Felder lohnt jedoch den Zeitaufwand, weil sie die soziale Phantasie beflügelt. Ihr heuristischer Charakter regt an und gibt Hinweise: auf den Umfang der sozialen Felder und der sozialen Netze, auf die Positionierung einzelner Einrichtungen und ihrer Machtchancen, auf feldübergreifende und damit zwischen den sozialen Kulturen vermittelnde Instanzen, auf soziale Nähen und Distanzen sowie auf damit verbundene soziale Chancen und Konfliktpotenziale. Das Modell des sozialen Raums lässt stadtteiltypische soziale Konfigurationen mit einem Blick erfassen. Zugleich aber, und dies verweist auf die heuristische Seite des Modells, ist dieser Blick nie endgültig, da mit jeder positionierten Einrichtung und mit jedem umrissenen Feld Fragen aufgeworfen werden, deren Beantwortung unweigerlich zu neuen Fragen führt: wie sieht die Binnendifferenzierung einzelner sozialer Felder aus, wie sind die Einrichtungen nach Geschlecht, Alter, Ethnie, Bildung usw. gegliedert, welcher Verein kann für welches Projekt Brückenfunktion übernehmen, wie verändert sich die lokale Machtstruktur, wenn einzelne Gruppen zeitweise privilegiert werden usw.? Es handelt sich also um ein dynamisches Modell, das sich sowohl für den Einstieg in den Stadtteil als auch für weiterreichende Maßnahmen bis hin zum Controlling im Rahmen eines selbstreflexiven Quartiermanagements anbietet.


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