Kulturelle Segregation – Zweisprachigkeit – Integration – Assimilation

Begriffe, kontroverse Ansätze, pädagogische Konflikte


(Vortragstext bei der Jahrestagung Stadtteilarbeit 2003 "MigrantInnen im Stadtteil" (19.-21.11.03 in Hannover)

Kontakt:

Dr. Herbert Scherer, Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V., Tucholskystr. 11, 10117 Berlin, Tel.: (030) 2809 6106, email: scherer@spinnenwerk.de


Inhalt:


Liebe Kolleginnen und Kollegen,
mein Beitrag, in dem ich für den Mitveranstalter spreche (nämlich den Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Dachverband von Nachbarschaftszentren, Bürgerhäusern und Gemeinwesenprojekten) hat in der Dramaturgie dieser Tagung folgende Aufgabe:
Er soll den Bezug herstellen zwischen dem allgemeinen Thema, den vorgestellten Praxisbeispielen (die uns vor allem am zweiten Tag erwarten) und Fragestellungen, wie sie sich aus der Praxis und für die Praxis der Einrichtungen vor Ort / in den Stadtteilen ergeben.
Als wir uns vor ein paar Monaten über die Themenstellung absprechen wollten, schlug ich spontan den Titel vor "Friede, Freude, Multikulti oder die Grenzen der Integration". Das hatte seinen Grund, den ich gleich erläutern werde, aber heute bin ich froh, dass wir uns schließlich auf einen weniger provokativen Titel geeinigt haben, der mir besser erlaubt, auch das in meinen Beitrag einzubeziehen, was ich in den letzten Monaten als Phasenverschiebung in der öffentlichen Debatte wahrzunehmen glaube.
Was stand hinter meinem spontanen Themenvorschlag?
Nach ersten Gesprächen über das Programm der Tagung hatte ich den Eindruck, dass wir es uns möglicherweise etwas zu leicht machen, wenn wir uns mehrere Tage nur mit dem Schönen und Guten beschäftigen, mit best practice Projekten im Bereich Migration und Integration. Müssten wir uns nicht auch mit unseren Schwierigkeiten konfrontieren, uns an ihnen "abarbeiten", um zu Lösungen zu kommen, die nicht nur auf einem Wunschzettel landen, sondern unmittelbar für die tägliche Praxis, aber auch für unsere Teilnahme an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um den richtigen Kurs in der Migrationsfrage Bedeutung bekommen?
Ich wollte den Tagungsteilnehmern, von denen anzunehmen war, dass sie zu 99% zu denen gehören würden, die guten Willens sind und vorurteilsfrei für Verbesserungen im Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Stadtteil praktisch eintreten, ein paar Nüsse zu knacken geben. Das schien mir sinnvoller, als in einer Art Festvortrag "Eulen nach Athen zu tragen" und in wohlgesetzten Worten neue Begründungszusammenhänge für das zu finden, in dem wir uns alle (im Großen und Ganzen) einig sind.
Also ein bisschen "advocatus diaboli" spielen. Aber nicht nur spielen: es stand durchaus der Wunsch dahinter, von erfahrenen Leuten, wie sie zu solch einer Tagung kommen, praxisrelevante Antworten auf Fragen zu bekommen, die sich ergeben, wenn man immer wieder mit Situationen konfrontiert ist, die sich nicht einfach mit ein bisschen gutem Willen bewältigen lassen.

z.B. Doppelherrschaft oder "no go area"

Es ist jetzt etwas länger als ein Jahr her, dass einer unserer Mitarbeiter (Honorarkraft aus der Dominikanischen Republik) ein Mitglied der von ihm betreuten Jugendgruppe davor bewahren wollte, dass ihm von zwei anderen Jugendlichen sein Fahrrad geklaut wurde. Das gelang durch entschlossene verbale Intervention. Zwanzig Minuten später sah sich dieser Mitarbeiter einer Gruppe von mehr als 20, z.T. erwachsenen Kumpels der potenziellen Räuber gegenüber, die ihm ohne viel Federlesens klarmachten, dass in diesem Stadtgebiet andere die Regeln des Zusammenlebens bestimmen und überwachen: Er wurde mit einer Reihe von Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Den Stadtteil hat er seitdem nicht mehr betreten. Die von ihm betreuten Jugendlichen haben sich nach dem Vorfall nie wieder getroffen. Die betroffene Einrichtung war dafür eher dankbar, wurde sie doch durch diesen Rückzug davor bewahrt, in die Schusslinie der selbst ernannten Stadtteilwächter zu geraten. Ein klassischer ausländerfeindlicher Akt? Ja, unser Mitarbeiter hat eine dunkle Hautfarbe. Nein, die Angreifer waren junge Leute mit türkischem und arabischem "Migrationshintergrund."

z.B. Kriminalstatistik

Die Tatverdächtigenstatistik der Berliner Polizei weist eine signifikante Differenz des Anteils von Jugendlichen mit Migrationshintergrund am vergleichbaren Bevölkerungsquerschnitt im Vergleich zu ihrem Anteil an der Zahl entsprechender Tatverdächtigengruppen aus. Bei der normalen Kriminalität ist der Anteil etwa doppelt so hoch wie er statistisch zu erwarten wäre, bei Raubtaten ist er sogar viermal so hoch. In der Vergangenheit gab es eine große Zurückhaltung bei der Veröffentlichung solcher Zahlen, wollte man doch alles vermeiden, was "Wasser auf die Mühlen von Rechtsradikalen" sein könnte. Damit hat man sich aber zugleich daran gehindert, dem Phänomen einer zunehmenden Distanz zu unserer vorherrschenden Moral und Rechtsordnung adäquat zu begegnen.
Solche und ähnliche Beispiele wollte ich Ihnen vorlegen, um mit Ihnen darüber zu sprechen, an welchen Punkten unser multikultureller guter Wille vielleicht nicht ausreicht und wir ein bisschen mehr an Klarheit und Entschlossenheit entwickeln müssen.
Aber, wie gesagt, heute bin ich froh, dass die Themenstellung meines Beitrages offener angelegt ist, denn der öffentliche Diskurs hat sich - wenigstens ist das meine Wahrnehmung - in den letzten Monaten und Wochen verändert.
Die in den Beispielen dargestellten problematischen Entwicklungen werden nicht länger totgeschwiegen und ihre Skandalisierung wird nicht länger den "Rechten" überlassen, allerdings ist eine große Verunsicherung zu spüren in der Frage, welches die richtigen Schlussfolgerungen aus der Feststellung problematischer Segregationstendenzen sein sollen.
Dazu wieder zwei Beispiele:

z.B. Deutsche Sprache

In der Teamsitzung eines Jugendprojektes in Berlin-Marzahn ging es letzte Woche um den Druck eines Flyers, der die Arbeit des Projektes vorstellen und zu einer Veranstaltung im Stadtteil einladen sollte. Viele der Jugendlichen und ihrer Familien, die durch den Flyer erreicht werden sollten, sprechen untereinander Russisch. In der Teamsitzung, die noch vor ein paar Monaten mit einiger Selbstverständlichkeit beschlossen hätte, den Flyer zweisprachig herauszubringen, gab es jetzt - unter dem Einfluss der öffentlichen Debatte zum Verhältnis von Sprache und Integration - eine lange Diskussion, die sich mit dem Argument auseinanderzusetzen hatte: "Die sollen doch Deutsch sprechen, um sich nicht weiter abzukapseln. Wir unterstützen das am besten, wenn wir sie nicht auch noch in russischer Sprache ansprechen und sie damit im gesellschaftlichen Abseits festhalten ..."

z.B. Kopftuchverbot

Der Berliner Ausländerbeauftragte Günter Pienig zeigte sich in der letzten Woche empört über das Verhalten eines "Freien Trägers der Jugendarbeit", der an einer Berliner Schule eine sog. Schulstation betreibt und auf nachdrücklichen Wunsch der Schule eine Erzieherin aus der Einrichtung abgezogen hat, die als Muslimin ein Kopftuch trug. Damit hat ein "Freier Träger" im Vorgriff auf möglicherweise zu erwartende landesgesetzliche Regelungen für den öffentlichen Dienst einem faktischen Berufsverbot für religiös motivierte Kopftuchträgerinnen den Weg geebnet.
Ich denke, dass wir, wenn wir jetzt hier im Saal eine Umfrage machen würden unter dem Motto "Wie hätten Sie entschieden", ein durchaus gespaltenes Ergebnis bekämen. Es dürfte sich also lohnen, sich den hiermit verbundenen Fragen etwas genauer zu widmen.
Der (entschärfte) Titel meines Beitrages gibt mir dazu Gelegenheit. Nach wie vor beabsichtige ich allerdings, mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten, nicht zuletzt, um Hintergrundanregungen für die morgige Diskussion in den Arbeitsgruppen zu geben.


Multikulturelle Gesellschaft

Als unser Verband (für sozial-kulturelle Arbeit) im Jahre 1988 eine Konferenz für unseren internationalen Dachverband, die International Federation of Settlements and Neighbourhood Centres ausrichtete, hielt der damalige Vorsitzende Dieter von Kietzell (morgen Moderator der Arbeitsgruppe "i") einen programmatischen Vortrag unter dem Titel "Auf dem Weg in eine multikulturelle Gesellschaft". Das wurde damals von vielen als Provokation begriffen, denn die Vorstellung von einer multikulturellen Gesellschaft war noch keineswegs salonfähig. In seinem Vortrag warnte Dieter von Kietzell aber auch schon vor jener möglichen Verharmlosung des Begriffes, die wenige Jahre später dazu beitragen sollte, dass er eine gewisse Beliebigkeit und daraus resultierend Beliebtheit bekam, wenn er die Frage stellte: "Ist es eine deutsche Eigenart, daß sich die meisten Menschen hier zu Lande unter einer kulturellen Begegnung einen harmonischen Verlauf wünschen, der Allen Freude und Unterhaltung bringt und niemanden stört?"
Das Leitbild einer multikulturellen Gesellschaft, wie es Anfang der neunziger Jahre formuliert wurde, hatte u.a. den Sinn, den Deutschen behutsam den Gedanken nahezubringen, dass sie in einem Land lebten, in dem Einwanderung stattgefunden hatte und weiter stattfinden würde. Dazu äußert sich der Politikwissenschaftler Claus Leggewie 1990, nachdem er die Feststellung getroffen hat "Die multikulturelle Gesellschaft haben wir schon" folgendermaßen: "Die meisten Visionen multikulturellen Zusammenlebens sind (...) klinisch konfliktfrei; sie entsprechen (...) Projektionen besseren Lebens".
Der schwärmerische, zuweilen folkloristische Multikulturalismus, der durchaus mit einer wohlwollend toleranten Ignoranz der real existierenden Probleme, Verwerfungen und Konflikte einhergehen kann, reicht nicht unbedingt als Konzept, wenn wir es mit einem wirklichen Einwanderungsland zu tun haben. Außer es geht um einen erweiterten Kulturbegriff, der sich auf sämtliche, auch die politischen und/oder religiösen Vorstellungen vom Leben erstreckt und akzeptiert, dass Kollisionen und Auseinandersetzungen vorprogrammiert sind.


Die Ambivalenz des Fremden

Das Konzept "Multi-Kulti" ist nicht tot (in Berlin haben wir sogar einen öffentlich-rechtlichen Radiosender gleichen Namens), aber es hat im Verlauf der neunziger Jahre an Zugkraft eingebüßt. Dazu hat einerseits eine bis dato unbekannte radikale Ausländerfeindlichkeit beigetragen, andererseits die begriffliche Verlagerung der gesellschaftlichen und politischen Debatte auf die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. Eigentlich sind das zwei Seiten derselben Medaille: es gibt ein Gespür dafür, dass mehr auf dem Spiel, bzw. auf der Tagesordnung steht als eine relative unverbindliche Bereicherung unseres kulturellen Lebens. Es deutet sich an, dass das eine oder andere, was uns bislang selbstverständlich war, im Zuge dieser Entwicklung auf den Prüfstand geraten könnte.
Das führt zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen Pro und Kontra, weil die eine Seite Veränderungen will, während sich die andere Seite dadurch massiv bedroht fühlt.
Folgende Haltungen können wir beobachten:

a) Begeisterte Begrüßung des Fremden als Nicht-Ich

Indem ich mich mit dem Fremden identifiziere, streife ich das ab, was mir an mir selbst nicht gefällt. Eine in Deutschland beliebte Haltung, um sich radikal von der historischen Last der Verbrechen des Nationalsozialismus zu befreien. Varianten dieses Reaktionstypus können z.B. sein: Konvertieren zum Islam oder zum Buddhismus, besser noch: Mitgliedschaft in der neu entstandenen Gemeinschaft der "Antideutschen" (wie besonders prägnant die "Antideutsch-Kommunistische Gruppe Leipzig", die auf Demonstrationen mit roten Fahnen und israelischen Nationalflaggen auftritt und jüngst ihren Internet-Auftritt nicht weiter aktualisiert hat, weil sie feststellen musste, "dass die Positionen innerhalb der Gruppe zu weit auseinandergehen, als dass die bisherige Zusammenarbeit fortführbar wäre")

b) Wahrnehmen des Fremden als Ich-Erweiterung

Diese Haltung hat viel Ähnlichkeit mit dem Multi-Kulti-Konzept. Ich erkenne im Fremden verdeckte Möglichkeiten meiner selbst. Ein bisschen, als wenn ich einen Roman lese oder besser noch die Biographie eines Menschen, mit deren Hilfe ich mich (in der Phantasie) über die Beschränktheiten meines Alltagslebens erheben kann. Im Fremden sehe ich Realität gewordene Wunschbilder, die mich beflügeln können. Vielleicht ist es nur das Fest mit seiner besonderen Atmosphäre, vielleicht ist es die Küche, die Musik oder die Kleidung, die mich begeistert und die (ganz real) mein Leben bereichern kann.

c) Das Fremde als Herausforderung

Gesellschaftlich erreichter Konsens und ungeschriebene Verabredungen können in Frage gestellt werden, falls Menschen, die neu dazu kommen, das Recht eingeräumt wird, ihre Vorstellungen gleichberechtigt einzubringen. Das kann sich auf die Rolle der Familie, der Geschlechter, der Tradition, der Religion usw. beziehen. Einer entsprechenden Auseinandersetzung bin ich nur gewachsen, wenn ich eigene Überzeugungen habe, die mir klar sind, die ich einbringen und für die ich werben kann. Solch eine Auseinandersetzung ergebnisoffen zuzulassen, fällt besonders schwer, wenn man es nie lernen musste, sich über die Grundsätze des Zusammenlebens eigene Gedanken zu machen. (Es sei daran erinnert, dass wir noch nicht einmal unsere Verfassung durch eine bewusste Entscheidung angenommen haben, nicht nach dem II. Weltkrieg und nicht nach der Vereinigung - sie hat einfach durch Gewohnheitsrecht unhinterfragte Geltung erworben).

d) Das Fremde als Bedrohung

Einschlägige Foren im Internet, auch die von seriösen Anbietern wie dem Fernsehsender ntv, sind nach dem Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichtes voll von Stellungnahmen, in denen die Angst vor Überfremdung sich Luft macht.
Zitate:

"Ob es langfristig gut für Deutschland ist ?? (...) In 30 Jahren wird es hier Kopftuchzwang geben ... Meine Prognose"

oder

"WENN WIR SO tolerant sind .... sind 'DIE' auch so tolerant zu uns??? Gibt es die gezeigte Toleranz auch im Umkehrschluss ??? UND WAS IST .... wenn nicht???"

oder

"Warum ist eigentlich in Deutschland für Ausländer fast alles erlaubt? Warum müssen diese Ausländer sich in Deutschland nicht deutschen Sitten und Gebräuchen anpassen. Genauso wird es doch von den Deutschen auch im Ausland erwartet. (...) Ich habe das Gefühl, die Ausländer haben in Deutschland mehr Rechte als wir Deutschen."

oder

"Wird nicht mehr lange dauern dann hockt der erste Mullah unter der Glaskuppel in Berlin und plädiert dafür, den Gottesstaat einzuführen. Wer fremd geht, riskiert dann eben, ein bisschen gesteinigt zu werden und wer ein Fahrrad klaut, dem wird seine Schreibhand abgehackt."

Dass die Debatte hitzig wird, hat nicht nur mit den schon vollzogenen und weiter absehbaren (Stichwort EU-Erweiterung) objektiven Veränderungen im Innern unseres Landes zu tun, sondern auch damit, dass damit verbundene Ängste von Teilen der Politik populistisch verstärkt werden und dass seit dem 11. September 2001 deutlich ist, dass hinter manch verbalradikaler Formulierung eine verdammt reale Bedrohung stecken kann, die schon so weit zum Selbstläufer geworden ist, dass sie sich durch Entgegenkommen nicht besänftigen und abschwächen lässt sondern im Gegenteil an Potenz gewinnt.


"Happy Ghetto"

Als ich vor ein paar Jahren zum erstenmal von einem Kollegen mit dem Begriffspaar "Happy Ghetto" konfrontiert wurde, fand ich das gar nicht witzig. Hatte ich doch meine Idealvorstellung von gemischten Wohngebieten im Kopf, die gut nachbarschaftliche Beziehungen fördern und ihren Bewohnern, insbesondere den Jugendlichen die Chance geben, sich an unterschiedlichen Lebensmodellen zu orientieren, statt durch Konformitätsdruck auf Denkmuster und Verhaltensweisen festgelegt zu werden, die ihnen den Zugang zum Rest der Gesellschaft erschweren. Ich fand es durchaus vertretbar, das richtige Mischungsverhältnis notfalls durch restriktive Eingriffe von oben (wie Zuzugssperre für bestimmte Bewohnergruppen) herzustellen.
Heute sehe ich das etwas differenzierter. Tatsächlich gibt es ja nicht nur die erzwungene "Ghettobildung", die wir bei dem Begriff als erstes assoziieren, sondern auch das freiwillige Zusammenrücken von Menschen, die etwas gemeinsam haben, was sie von der Mehrheit der anderen unterscheidet. Ihr Motiv ist, dass sie sich bei ihresgleichen wohler fühlen und - mit Recht - erwarten, dass sie dort mehr Unterstützung in informellen familiären und nachbarschaftlichen Netzen finden werden als anderswo.
Bei einem Besuch in New York konnte ich neulich sehen, wie in einem "richtigen Einwanderungsland" ethnisch homogene Wohngebiete zu den als selbstverständlich geltenden Startbedingungen für die jeweiligen Neuankömmlinge gehören. In den entsprechenden Gebieten in der Lower East Side von Manhattan sind einige Regeln der Mehrheitsgesellschaft außer Kraft gesetzt, das betrifft Arbeitsschutz und Mindestlöhne genauso wie die Hygiene der Wohnverhältnisse. Allerdings bedeutet es auch, dass die Hürden für den Einstieg in Arbeit und Wohnen extrem niedrig sind.
Die Frage ist also vielleicht weniger, ob es solche Wohngebiete gibt, sondern welche Funktion sie für ihre Bewohner haben, vor allem, ob sie Start- und Durchgangs- oder Endstation sind. Das hängt nun wieder mit ihrer Gestaltung zusammen. Die besonders berüchtigten so genannten ghettoähnlichen Wohngebiete, die wir in Berlin kennen, zeichnen sich gerade nicht dadurch aus, dass sie heruntergewirtschafteten Wohnraum zu günstigen Preisen anbieten (wie früher das berühmte Kreuzberg SO36) sondern dass sie gut ausgestatteten Wohnraum mit Sozialbindung zu Mietpreisen anbieten, die sich arme Leute nur leisten können, wenn "das Amt" die Kosten übernimmt. Die Rahmenbedingungen sind kontraproduktiv. Sie bieten keinen Anreiz durchzustarten und das Wohngebiet möglichst bald hinter sich zu lassen, sondern sie verführen im Gegenteil dazu, voll auf die andauernde Alimentierung zu setzen.
Hier tut sich übrigens ein interessanter Zielkonflikt auf.
Einige Wohngebiete des gerade beschriebenen Typus sind als Quartiermanagementgebiete / Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf ausgewiesen. Als Indikator für steigende Wohnzufriedenheit und den Erfolg der eingesetzten Fördermittel wird gemeinhin der statistisch messbare Rückgang der Mieterfluktuation angenommen. "Aber", so ein leitender Beamter des Bundeswohnungsbauministeriums in einer informellen Gesprächsrunde, "müssten wir nicht vielleicht eher die Zunahme an Wegzugstendenzen als Erfolg unserer Maßnahmen werten?"


Staatsbürgerschaft und Nationalität

Als Geschäftsführer des Berliner Verbandes der Nachbarschaftsheime bekam ich nach 1990 häufig Bewerbungen auf den Tisch, bei denen im beigefügten tabellarischen Lebenslauf die Frage nach der Staatsangehörigkeit mit "BRD" beantwortet worden war. Damit konnte ich zwar auf einen Blick erkennen, dass die Bewerbung von jemand aus dem Osten kam (bei den Westlern stand nämlich an dieser Stelle "deutsch"), aber eine plausible Erklärung hatte ich nicht für dieses Phänomen, bis ich bei einem Besuch in Russland mitbekam, dass in den dortigen Pässen bis heute zwei Eintragungen vorgenommen werden, nämlich einer für die Staatbürgerschaft und einer für die Nationalität - z.B. Staatsangehörigkeit "Russische Föderation", Nationalität "deutsch". So war es auch in der DDR gewesen: Staatsangehörigkeit "DDR", Nationalität "deutsch".
Beim Blick in unsere Personalausweise und Pässe können wir unschwer feststellen, dass die entsprechende Rubrik lautet "Staatsangehörigkeit / Nationality / Nationalität", d.h. die Begriffe werden gleichgesetzt und folgerichtig steht in unseren Ausweisen an dieser Stelle "deutsch".
Ich möchte hier nicht die Frage beantworten, was besser ist und ich habe auch keinen erschöpfenden Überblick darüber, wie das in den meisten anderen Ländern gehandhabt wird, aber ich finde es doch nachdenkenswert, welchen Einfluss auf unser Denken die begriffliche Unschärfe hat, die so selbstverständlich nicht ist, haben wir doch alle im Geschichtsunterricht unsere Vorgeschichte im "Heiligen Römischen Reich deutscher Nation" kennen gelernt, in dem für viele Jahrhunderte eine deutliche Unterscheidung von staatlicher Struktur und Nationalität gemacht worden ist.
Kann es nicht sein, dass unser Konzept von der Identität von Staatsbürgerschaft und Nationalität ein wesentliches Hindernis bei der Einbürgerung von Menschen ist, die sich mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft, eigentlich einer höchst rationalen Angelegenheit, zugleich - zumindest begrifflich - von Teilen ihrer Identität verabschieden sollen, die ihnen nach wir vor wichtig sind?
Der unbändige Wunsch nach Zulassung einer doppelten Staatsbürgerschaft, der ja komplizierte Loyalitätsfragen aufwirft, ließe sich vielleicht mindern, wenn wir es schaffen könnten, nicht von jedem Staatsbürger gleich zu verlangen, mit Haut und Haaren Deutscher zu sein.
Dazu fällt mir eine etwas traurige Anekdote aus meiner Verwandtschaft ein. Eine Kusine von mir hat einen Amerikaner geheiratet, der das spätere Scheitern der Ehe gleich nach der Eheschließung mit dem fatalen Satz eingeleitet hat: "Now you are all mine, sunshine."
Ist es nicht so, dass die Akzeptanz von Differenz, die richtige Balance von Distanz und Nähe, eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Beziehungen zu anderen Menschen ist, nicht nur im privaten sondern auch im gesellschaftlichen Bereich?
Wir sind von solchen Einsichten, die das Bewusstsein der Menschen in klassischen Einwanderungsländern prägen, noch weit entfernt. Das hat sich vor einigen Jahren bei der fatalen Begriffsschöpfung von der "deutschen Leitkultur" gezeigt, die an den Stammtischen eine solche Resonanz gefunden hat, dass ihre Erfinder sie erschrocken wieder aus dem Verkehr gezogen zu haben scheinen. Aber ich habe den Eindruck, dass auch hinter der Tatsache, dass wir heute von einem "Zuwanderungsgesetz" statt von einem "Einwanderungsgesetz" sprechen, mangelnde Kühnheit stehen könnte und das heimliche Versprechen, dass wir uns auf größere Veränderungen nicht einstellen müssen, weil nur 'etwas dazu kommt', das sich schon anpassen und nicht in relevantem Umfang eigene Ansprüche anmelden wird.
Welch gefährliche Sprengkraft es haben kann, wenn rechtliche Gleichstellung ohne ein deutliches Bekenntnis zur Relativierung von kultureller Hegemonie erfolgt, zeigt übrigens die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. Er hat sich im 19. Jahrhundert in einem engen zeitlichen, wahrscheinlich aber auch in einem logischen Zusammenhang mit der sogenannten "Judenemanzipation" wie ein Flächenbrand ausgebreitet, weil viele sich dazu berufen fühlten, empört nachzuweisen, dass sich die soeben Gleichgestellten durch das eine oder andere Merkmal vom Rest der Nation denn doch unterschieden.
Kennen wir heute nicht alle "Menschen mit Migrationshintergrund", die sich, seit sie im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft und damit eines deutschen Passes sind, des absurden - aber vor dem skizzierten Hintergrund wenigstens erklärbaren - Vorwurfes erwehren müssen, sie seien gar keine "richtigen Deutschen"?


Hier spricht man deutsch

Sprache ist eine sensible Angelegenheit. Sie dient nicht nur der Verständigung mit anderen, sondern auch der Selbstverständigung. Sie ist Grundlage und Medium des Denkens.
Eine Kollegin ungarischer Herkunft, die unsere Sprache in Wort und Schrift perfekt beherrscht, hat mir einmal erzählt, dass sie in Deutsch denkt und träumt und doch bei der Geburt ihres Kindes plötzlich ihre Gefühle nur noch in ihrer ungarischen Muttersprache ausdrücken konnte.
Bei aller Klarheit, dass die Beherrschung der Landessprache eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Integrationsprozesse ist, dürfen wir nicht vergessen, dass es emotionale Bereiche gibt, die von einer Zweitsprache nicht erfasst werden. Die konsequente Anerkennung und Pflege von Zweisprachigkeit ist deswegen kein Integrationshindernis sondern sollte im Gegenteil als selbstverständlicher Bestandteil eines produktiven Zusammenlebens mit Menschen anderer Muttersprachen begriffen werden.
Es ist kontraproduktiv, wenn unser Bildungssystem sich - abgesehen von den Europa-Schulen - dieser Aufgabe weitgehend entzieht und damit Ressourcen verspielt, die wir viel besser nutzen könnten und die wir mit der banalen Feststellung "Hier spricht man Deutsch" teilweise in den subkulturellen Untergrund abschieben.
Auch hier wieder ein Beispiel, das das Dilemma beleuchtet. Ein Kollege aus Bonn, deutscher Pass, arabischer "Migrationshintergrund" möchte, dass seine Tochter auch die arabische Sprache sicher beherrscht. Weil er dafür keine andere Möglichkeit sah, hat er sie auf der "König Fahd Schule" angemeldet, die von der saudi-arabischen Botschaft unterstützt wird und die vor drei Wochen in die Schlagzeilen geraten ist, weil einer ihrer Lehrer zum heiligen Krieg aufgerufen haben soll und weil ihr enge Kontakte zu jemandem nachgesagt werden, in dessen Wohnung Sprengstoff und ein selbstverfasstes Testament nach Al Quaida-Vorbild gefunden wurden. Dieser Kollege, liberal, integriert, in einer bi-nationalen Ehe lebend, steht jetzt wegen des nachvollziehbaren und vergleichsweise bescheidenen Wunsches, dass seine Tochter auch ihre Vatersprache beherrschen soll, vor einer verschärften Variante der Kopftuchfrage, wenn nämlich die Schule das Mädchen aufs Tragen eines Kopftuchs verpflichtet.
Doch die Förderung der Zweisprachigkeit hat nicht nur mit solch sensiblen Bereichen der Identitätsfrage zu tun. Forschungen zum Spracherwerb sind eindeutig zum Ergebnis gekommen - und durch Wahrnehmungen im Bekanntenkreis sehe ich das bestätigt - dass Kinder, deren Eltern mit ihnen konsequent die eigene Muttersprache gesprochen haben, die deutsche Sprache in Wort und Schrift auch dann viel besser erlernen, wenn die Muttersprache beider Eltern oder eines Elternteils nicht die deutsche Sprache ist.
Dabei kommt es übrigens häufig vor, dass Kinder - abhängig von Umfang und Bedeutung ihrer sozialen Kontakte zu anderen - irgendwann auf Deutsch als ihre eigene Primärsprache umsteigen. Gut ist, wenn das freiwillig geschieht und wenn die Eltern das auch positiv sehen und durchaus fortfahren, im Familienkreis ihre eigene Sprache zu benutzen. Die zwei- oder mehrsprachigen Dialoge, die so entstehen, haben es in sich.
Schädlich für das Erlernen der deutschen Sprache ist es hingegen, wenn, wie es bisweilen in der öffentlichen Debatte geschieht, die Eltern aufgefordert oder sogar unter Druck gesetzt werden, mit ihren Kindern Deutsch zu sprechen, auch wenn sie diese Sprache selbst nicht ausreichend beherrschen, um gute Sprachvorbilder zu sein.
In Berlin gab es vor kurzem eine Sprachstandsuntersuchung bei Vorschulkindern, die erhebliche Defizite insbesondere bei Migrantenkindern aktenkundig machte. Unser Schulsenator hat bei der Vorstellung der Ergebnisse völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass ausländische Eltern mit dafür verantwortlich seien, dass ihre Kinder nicht nur in der Muttersprache sondern auch beim Erwerb der deutschen Sprache gefördert würden.
In der Presse, wenigstens bei den Zeitungen, die nicht höchsten Wert auf eine differenzierte Darstellung legen, wurde der Halbsatz "nicht nur in der Muttersprache" weggelassen und alles auf den fatalen einfachen Nenner gebracht (und als Position des Senators weitergemeldet): "Türkische Mütter sollen mit ihren Kindern Deutsch sprechen".
Ich kenne türkische Mütter, die sich schon vor Jahren einem solchen Druck gebeugt haben und jetzt todunglücklich über das Ergebnis sind. Auf solche Weise wird ein erkanntes Problem nicht gelöst sondern verschärft.


Kanakisch - ein kleiner Exkurs

Ein besonderes Ärgernis stellt für viele Beobachter der Sprachentwicklung das Entstehen von Mischsprachen dar. Nicht türkisch, nicht deutsch, grammatikalisch unkorrekt und von einer erschreckend reduzierten Weltsicht geprägt erscheint das, was viele Jugendliche, die zwischen den Kulturen leben, da von sich geben.
Zugegeben, für den schulischen Erfolg und für sozialen Einstieg in die Mehrheitsgesellschaft, ist das, was sich hier herausbildet, eine Katastrophe - "echt krass Alder".
Seit Feridun Zaimoglu Mitte der neunziger Jahre das Buch "Kanak Sprak" veröffentlicht hat, hat sich für diese Sprache der Begriff "Kanakisch" eingebürgert, der sich nicht auf das polynesische Inselvolk gleichen Namens bezieht sondern auf die trotzig sarkastische Selbstbezeichnung derjenigen, die ab und an mit diesem Schimpfwort belegt wurden.
Im kanakischen Slang kann die Beobachtung, dass einige Jugendliche, die man für Softis hält, mit einer jungen Frau flirten, der inhaltliche Kern des folgenden Satzes sein:
"Dem schwulen Penner ficken dem Tuss, Alder"
Ein nicht untypischer Dialog könnte sich so anhören:
Frage: "Hast Du Problem, oder was"
Antwort: "Willstu auf Fresse, oder was"
Sicher, das ist nicht harmlos. Wer so redet, denkt auch so. In der Sprache drückt sich eine Weltsicht aus, die ihrerseits durch die Sprache verfestigt wird.
Aber die bloße Verteufelung reicht auch nicht aus. Was hier eruptiv zum Ausbruch kommt, ist ja tendenziell auch ohne den entsprechenden sprachlichen Ausdruck - im Bauch - vorhanden. Die Sprache macht es greifbar, kenntlich und bearbeitbar.
Mit anderen Slangs und mit vielem, was Dialekte (als Varianten von Primärsprachen) ausmacht hat das Kanakische gemeinsam, dass es eine von besonderen Erfahrungen geprägte Sicht der Dinge prägnant und letztlich nicht übersetzbar auf den Punkt bringt.
Gemeinsamkeiten gibt es übrigens auch mit anderen Mischsprachen, die sich teilweise über Jahrhunderte erhalten und weiterentwickelt haben und denen gegenüber wir eine tolerantere Haltung einzunehmen pflegen. Erwähnt seien hier das Jiddische und das Kreolische ("Come Mr. Talleyman, talley me bananas"), die internationale Sklavensprache, zu Hause u.a. in den Bahamas, in Jamaika und in Guayana). All diese Sprachen haben eine gegenüber den elaborierten Sprachen radikal vereinfachte Grammatik, die sich z.B. im weitgehenden Fehlen von Deklination, Konjugation und Präpositionen zeigen kann.
"Isch geh Bahnhof, weisstu"
Aber das ist ja eigentlich nicht mein Thema. Ich möchte nur dafür plädieren, diesem Phänomen nicht einfach angewidert den Rücken zu kehren und es auch nicht den Sozialromantikern zu überlassen, die sich am Reiz des Exotischen delektieren.
Es kann durchaus ein Thema für Stadtteilarbeiter sein. Und damit komme ich zur Fragestellung: Was bedeutet das bisher Gesagte für unsere Arbeit in den Einrichtungen und in den Stadtteilen?


Jane Addams und das "Hull House" in Chicago

Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit komme und dass wir Teil eines Internationalen Verbandes sind, der auf Traditionen aufbaut, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Seinen Ursprung hat er in der sozialreformerischen Settlement-Bewegung, die damit begann, dass sich junge Angehörige der Oberschichten in den Elendsvierteln der großen Städte - zuerst in England, dann in den USA und bald in vielen anderen Ländern der Welt - "niederließen", dort ihren Wohnsitz nahmen, um mit den Armen zu leben und ihnen als neue Nachbarn von dem abzugeben, was sie als ihr besonderes Privileg empfanden: Lebensfreude, Kultur und Wissen. Dass wir uns in dieser Tradition sehen, hat zur Folge, dass wir ab und an zurückblicken, auf das, was unsere Vorgänger/innen gemacht haben, um daraus Anregungen für unsere heutige Arbeit zu gewinnen.
Das erste Settlement in Amerika (Hull House) wurde 1889 von Jane Addams in Chicago gegründet. Dass das in einem Wohngebiet war, in dem vor allem italienische Einwanderer lebten, war kein Zufall, denn Elendsviertel und Einwanderung hingen schon damals in den USA eng zusammen. Die erste Aktion, die uns von Jane Addams und ihrer Kollegin Ellen Starr überliefert ist, war die persönliche Einladung an eine italienische Familie, an einem der nächsten Abende zur Wohnung der beiden amerikanischen Frauen zu kommen, um einen geselligen Abend "mit amerikanischen und italienischen Freunden zu verbringen." Als Begründung schrieben sie, sie seien Angehörige einer sehr respektablen Familie und hätten sich dafür entschieden, mitten unter den "Kindern Italiens zu leben und sehnten sich danach, mit ihnen Freundschaft zu schließen." Der Brief trug zusätzlich die Unterschrift eines italienischen Stadtteilbewohners. An den geselligen Abenden unterhielt man sich mit Lesungen aus dem Werk von George Eliot und dem Betrachten von Abbildern Florentinischer Kunst.
Auf diese Weise schufen Jane Addams und Ellen Starr eine Vertrauensgrundlage - als Nachbarn unter Nachbarn - die bald dazu führte, dass die Besucherinnen sagten, was ihnen ihnen im Wohngebiet fehlte. Gemeinsam begann man, Abhilfe für erkannte Bedarfslagen zu schaffen. Zuerst ging es um die Einrichtung eines Kindergartens, dann um einen Jugendclub für Teenager. Schließlich folgte die Bereitstellung von Räumen für die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter in den sweat-shops, den "Schwitzbuden" der Textilindustrie mit ihren untragbaren Arbeitsbedingungen. Dabei ließen es die Frauen aber nicht bewenden. Sie gaben ihre Kenntnisse über die Lebensbedingungen im Stadtteil weiter und traten schließlich erfolgreich für Gesetzesinitiativen ein, die zur Verbesserung des Arbeitsschutzes führten, aber auch zur Einführung einer Jugendgerichtsbarkeit.
Was ist daran bemerkenswert?

  1. Am Anfang steht eine Einladung
  2. Die Frauen preisen sich nicht als Wohltäterinnen an, sondern begründen die Einladung mit ihrem eigenen Wunsch nach einem Zusammenleben als gute Nachbarn
  3. Interesse für die Kultur (beider Seiten)
  4. Die Mängelbeseitigung wird als gemeinsame Aufgabe angepackt, nicht als Fürsorge gewährt
  5. Das Haus bietet bedarfsgerechte konkret nützliche Dienste an (Kinder- und Jugendarbeit)
  6. Den Menschen wird dabei Unterstützung gegeben, nicht nur die Symptome zu heilen, sondern an die Ursachen zu gehen (auch wenn das übrigens zu erheblichen Konflikten mit einigen wohlhabenden Gönnern des Projektes führt - so hatten sie sich das nicht vorgestellt)
  7. Die Perspektive politischer Veränderung wird nicht ausgeklammert, sondern der mögliche eigene Beitrag wird geleistet.

Soweit dieser Ausflug in die Geschichte.
Zurück zu unserer Gegenwart und Zukunft.


Die Zukunft liegt im Dialog

In der Sozial-Extra vom Mai 2002 steht folgende Zukunftsprognose:
'Im Jahre 2010 wird jeder zweite Bewohner unseres Landes im Alter zwischen 20 und 40 entweder selbst einen Migrationshintergrund haben oder mit einem Partner / einer Partnerin mit Migrationshintergrund zusammenleben'.
Die aktuelle Lebenswirklichkeit von Migranten in Berlin stellt sich so dar: Während die durchschnittliche Arbeitslosenquote knapp 20 Prozent beträgt, liegt sie bei Migranten über 40 Prozent. In einigen Wohngebieten steigt sie auf bis zu 60 Prozent und mehr.
Das kann nicht gut gehen, wenn nicht bald etwas passiert. Wir können nicht einfach zusehen, wie hier Fähigkeiten und Potenziale brachliegen, die für unsere Zukunft von entscheidender Bedeutung sind.
Es bleibt nicht viel Zeit.
Eine sozialfürsorgerische Haltung, die sich darauf beschränkt, Defizite festzustellen und Trostpflaster zu verteilen, ist nicht ausreichend, sie kann sogar kontraproduktiv sein. Wir müssen in den Stadtteilen, für deren Entwicklung wir Verantwortung zu übernehmen bereit sind, dafür sorgen, dass optimale Bedingungen für die Einbeziehung der Einwanderer in unser gemeinsames Leben geschaffen werden, in das sie ihre Stärken gleichberechtigt einbringen können.
Wenn wir die Einwanderer als Partner ernst nehmen, müssen wir uns mit ihren Vorstellungen vom Leben und von den Werten, die ihnen wichtig sind, auseinandersetzen. Wir können und dürfen nicht erwarten und verlangen, dass sie sich - wenn sie denn schon mit uns zusammenleben wollen - bedingungslos unseren Vorstellungen anzupassen haben.
Das ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, im Gegenteil: wir sollten für das, was uns wichtig ist und was wir für richtig halten, werben - in einem Dialog, in dem wir bereit sein müssen, auch alles zur Disposition zu stellen - nein, nicht alles. In dieser Hinsicht ist ein aufgeklärtes Verständnis von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung hilfreich. Denn die Anerkennung der Grundsätze der Verfassung und der allgemeinen Menschenrechte dürfen wir ruhigen Gewissens als verbindliche Geschäftsgrundlage deklarieren. Es geht um den ganzen Rest: Sitten, Gebräuche, Traditionen.
Für den Dialog der Kulturen müssen wir uns wappnen, die eine oder andere liebgewonnene Gewohnheit wird den Dialog nur dann überleben, wenn wir sie für uns selbst neu begründen können.
Wie sehr wir das verlernt haben, wie sehr wir geradezu darauf getrimmt werden, es zu verlernen, habe ich heute Nachmittag gedacht, als ich in der Straßenbahn vom Hauptbahnhof nach Kronsberg herausfuhr und drei Mädchen mir gegenüber über die Schule reden hörte.
Zuerst ging es um die Zensurengebung im Kunstunterricht. Die Schülerinnen beschwerten sich nicht über ihre jeweilige Zensur, aber sie waren entrüstet über eine für sie nicht einsichtige unterschiedliche Zensurengebung ohne Begründung, ohne Transparenz. Dann hieß es über andere Fächer "Wir dürfen nicht" – und "Wir müssen" und schlimmer "Er (= der Lehrer) möchte ...". Als Subjekte eines Dialogs waren diese Schülerinnen nicht gefragt, dazu wurden sie anscheinend nicht ausgebildet.
Kein Wunder, hat sich doch in unserer Demokratie ein gesellschaftlicher Stil, insbesondere ein Politikstil eingebürgert, der nicht in Alternativen, Chancen und Überzeugungskategorien denkt sondern dessen Tenor lautet "Das hat so zu sein". Achten Sie einmal darauf, wie häufig von unseren jeweils Regierenden in Stadt, Land und Bund die Redewendung zu hören ist "Dazu gibt es keine Alternative!".
Das ist nicht wahr, es gibt immer Alternativen – und es geht darum, nachzuweisen, dass der eigene Vorschlag der für die bessere Alternative ist.
Für jeden Dialog, für jede Verständigung ist es gut, wenn man eine gemeinsame Sprache zur Verfügung hat. Nicht, weil man bei uns Deutsch zu sprechen hat, sondern weil wir ein Interesse an Verständigung haben, sollten wir dafür werben, dass die Migranten unsere Sprache beherrschen lernen. Wir müssen dazu beitragen, dass das für sie Sinn macht, weil sie in uns (den "Einheimischen") Gesprächspartner finden.
Wenn wir nicht wollen, dass sie nur unter sich bleiben, dann müssen wir ihnen unser Interesse und unsere Neugier zeigen. Die Einladung kann dabei durchaus solche Umwege beinhalten, wie Jane Addams uns das gezeigt hat. Sprache hat dabei auch Signalcharakter. Den Kollegen aus dem Jugendprojekt, von dem ich anfangs berichtet habe, sei gesagt: Wenn Ihr mit den russisch sprechenden Aussiedlern auf Deutsch reden wollt, ladet sie in russischer Sprache ein. Damit vervielfachen sich die Chancen, dass das gelingt. Wenn sie spüren, dass sie gemeint sind, werden ihre Hemmungen, sich in einer Sprache zu verständigen, in der sie Schwächen haben, enorm sinken.
Nachbarschaftseinrichtungen, sozio-kulturelle und Stadtteilzentren, Bürgerhäuser und Gemeinwesenprojekte können viel dafür beitragen, dass der Dialog zustande kommt. Sie sind Experten im Einladen. Packen wir es an.
Als Vorletztes möchte ich uns ein Zitat von Martin Buber zum Thema mit auf den Weg geben, das dem Ernst der Lage angemessen ist:
"Ob wir als Menschen überleben, hängt von der Wiedergeburt des Dialogs ab."


Eine Einladung

Als letztes möchte ich Ihnen aber auch eine Einladung übermitteln. Und zwar von dem schon mehrfach erwähnten Internationalen Dachverband der Nachbarschaftsheime, der im nächsten Juni seinen turnusmäßigen Kongress in Toronto abhält, in Kanada, dem Land, das nach Einschätzung vieler Experten die weltweit durchdachtesten Einwanderungskonzepte umsetzt, von dem wir also vieles lernen können. Gegenstand des Kongresses ist die Aufgabe - in englischer Formulierung "Building Inclusive Communities" - wörtlich übersetzt: einbeziehende Gemeinwesen zu bauen. Als ein Unterthema wird benannt "Promoting diversity and inclusion" - 'Förderung von Verschiedenheit und Einbeziehung'. Ein workshop wird sich schließlich damit befassen, "how community arts can help to make powerful connetions, celebrate differences, and create new forums for inclusion" - wie Stadtteilkulturarbeit dazu beitragen kann, kraftvolle Verbindungen herzustellen, Unterschiede zu feiern und neue Foren für Einbeziehung zu schaffen.
Apropos Kanada. Meine allererste Begegnung mit diesem Land im Jahre 1989 hat mir auf sehr sinnliche Weise vor Augen geführt, was eine multikulturelle Gesellschaft bedeuten kann:
Der Beamte, der meinen Pass bei der Einreise überprüfte, sah nicht so aus, wie ich mir einen Kanadier vorgestellt hatte. Er hatte eine dunkle Hautfarbe. Und er trug einen Turban.

Womit wir wieder bei der Kopftuchfrage wären.