Community Organizing – ein Mittel zur Re-Politisierung der Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat?!

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Prof. Dr. Carsten Müller, Fachbereich Soziale Arbeit & Gesundheit, Hochschule Emden*Leer (in Ostfriesland), Constantiaplatz 4, 26723 Emden, Tel.: 04921/807 1237, Email: carsten.mueller@hs-emden-leer.de

Carsten Müller, Dr. paed., Jg. 1968, ist Professor für gesellschafts- und sozialpolitische Aspekte der Sozialen Arbeit an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a.: Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit, Sozialpädagogik und Demokratie, Armutsbekämfung, Gemeinwesenarbeit.

Der folgende Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung durch den Autor und die Redaktion der Zeitschrift "FORUM SOZIAL 4/2010: Wir für alle - Solidarität in der Sozialen Arbeit II (Ist der Ausschluss aus der Gesellschaft beschlossene Sache? Armut bei Kindern?)" entnommen. Die Zeitschrift » "FORUM SOZIAL" wird herausgegeben vom DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.)

Fußnote: Weibliche und männliche Formen werden im willkürlichen Wechsel verwendet.


Die Ausgabe von FORUM sozial 2/2010 berichtete vor allem aus internationaler Sicht über Community Organizing (im Folgenden: CO). Der lesenswerte Artikel des derzeit in Deutschland und Europa tätigen Organizers Paul A. Cromwell stellt Projekte vor, in denen die in Deutschland noch wenig verbreitete Methode erfolgreich in die Praxis umgesetzt wird (vgl. Cromwell 2010; weitere Projekte siehe auch Penta 2007). Hierzu ergänzend reflektiert der vorliegende Beitrag CO eher politisch-theoretisch. Dazu wird CO in einen kritischen Abgleich zur Sozialen Arbeit, besonders ihrer Position im aktivierenden Sozialstaat gebracht. Der Beitrag folgt der These: CO kann zur Re-Politisierung Sozialer Arbeit beitragen und helfen, aus der Falle einer Indienstnahme für den aktivierenden Sozialstaat herauszukommen, ohne indes in „altes" Denken jenseits von Partizipation und Empowerment zurückzufallen.


Von der Kraft der Assoziation

Im oben genannten Artikel werden Unterschiede zwischen Sozialer Arbeit und CO benannt (zu weiteren Unterschieden Mohrlok 1993; FOCO 1996). Denn ursprünglich stammt CO aus den USA und geht auf den radikaldemokratischen Bürgerrechtler Saul David Alinsky (1909-1972) zurück (vgl. Alinsky 1999; zur Biografie Szynka 2005).

CO baut so stark wie wahrscheinlich kaum eine zweite zurzeit diskutierte Methode auf Aktivierung und Engagement von Bürgerinnen auf, die ihre Lebensbedingungen beispielsweise in einem Stadtteil verändern wollen, dabei mutig Neues riskieren und ggf, auch Konflikte nicht scheuen. So gesehen vertraut CO einem eigentümlichen Organisations- und Assoziationsgeist, der in Hinsicht auf die deutsche Mentalität - falls es so etwas überhaupt gibt - fremd wirken kann.

Diese eigentümliche Kraft hat bereits frühzeitig Alexis de Tocqueville in seinem epochalen Werk Über die Demokratie in Amerika von 1837 bewundert (vgl. Tocqueville 1967: 103ff). Tocqueville, der ansonsten Demokratie nüchtern analysiert und klar Schwächen heraus­arbeitet, bewundert am amerikanischen Volk die Bereitschaft, sich zu allen möglichen Zwecken zusammenzuschließen. Denn in der Kunst der Vereinigung liegt ein Kernstück demokratischer Lebensweise: Assoziationen schützen vor der Despotie, indem sie in der Bürgerschaft den Geist der Freiheit wach halten: „Das einzige Bollwerk gegen einen sanften Despotismus sind Vereinigungen. Freiwillige Assoziationen für alle möglichen Zwecke sind etwas Wertvolles. Doch beruht ihre besondere Bedeutung darin, dass sie uns den Geschmack und die Übung der Selbstregierung vermitteln. ...." In demokratischen Ländern ist die Wissenschaft der Vereinigung die Mutter aller Wissenschaften" (Taylor 1993: 143). Wie funktioniert diese Wissenschaft? Gemäß CO schließen sich Bürgerinnen vor allem aus zwei Gründen zusammen: aufgrund von Eigeninteressen sowie von Beziehungen. Beide Aspekte kommen bestenfalls zusammen und dürfen nicht verkürzt werden: Eigeninteressen sind immer auch von einer Gruppe geteilte, also kollektive Interessen, welche mittels CO in einem langen Zuhör-Prozess herausgefunden werden. Sie können durchaus mit allgemeinen Werten, etwa mit der Forderung. nach sozialer Gerechtigkeit, einhergehen.

Beziehungen wiederum sind ebenfalls nicht partikular und abstrakt: Einerseits fußen Beziehungen auf Neugierde, echtem Interesse sowie erlebtem Vertrauen zwischen Menschen; was auch für die Beziehungsarbeit des Organizers gilt. Andererseits knüpft CO ein Beziehungsgeflecht, ein - wenn man so will - soziales Netzwerk vor allem zwischen Betroffenen. Eigeninteressen und Beziehungen machen, ergänzt um die in durchstandenen Konflikten mit- und aneinander gewonnenen Erfahrungen - seien dies Erfolge oder Niederlagen - den „Spirit" einer Organisation aus. So gesehen handelt es sich beim CO um eine Methode, die vom „Spirit" der Demokratie lebt. Die politische Philosophin Hannah Arendt hat dies als Gilückserfahrung beschrieben, die in keiner anderen Tätigkeit, etwa dem Geldverdienen, zu finden sei. Gemeint ist die Erfahrung, in öffentliche Erscheinung zu treten und die öffentlichen Angelegenheiten aktiv mitzubestimmen. Diese Erfahrung drückt sich nach Arendt in der berühmten Formel pursuit of happiness - zu deutsch: Streben nach Glückseligkeit - aus, die mutmaßlich Thomas Jefferson, ein Gründungsvater der amerikanischen Republik, 1776 in der Unabhängigkeitserklärung an genau diejenige Stelle gesetzt hat, die zuvor dem Eigentum im Kanon der bürgerlichen Rechte zugefallen ist (vgl. Arendt 2000: 162). Dies bedeutet: Durch öffentliches Handeln werden Menschen als Bürgerinnen kenntlich und anerkannt, was diese glücklich macht. Denn die Menschen - zumal Benachteiligte und Ausgegrenzte - erfahren sich, oft entgegen ihren alltäglichen Erfahrungen, als kompetent und mächtig in ihren eigenen Belangen. 


Die positive Seite der Macht

Der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten, Barock Obama, der als junger Mann selbst als Organizer in Chicago gearbeitet hat (vgl. Goede 2009; Müller 2009), beschreibt diesen Punkt im Artikel Warum organisieren? so: „Eigentlich findet man die Antwort auf die ursprüngliche Frage - why organize? - bei diesen Leuten. Wenn man dabei hilft, dass eine Gruppe Hausfrauen dem Bürgermeister der drittgrößten amerikanischen Stadt am Verhandlungstisch gegenüber sitzt und sich behauptet, oder wenn ein Stahlarbeiter in Rente vor einer Fernsehkamera seinen Träumen über die Zukunft seines Enkelkindes eine Stimme verleiht, erkennt man den wichtigsten und befriedigendsten Beitrag des Organisierens. Im Gegenzug lehrt Organizing mehr als alles andere die Schönheit und Kraft alltäglicher Menschen" (Obama 2009: 9-10).

Im Zitat wird darüber hinaus deutlich, dass CO ein spezielles Verständnis von Kraft bzw. Macht verfolgt: Macht ist hier nicht negativ besetzt, zumal der amerikanische Sprachgebrauch zwischen Macht und Gewalt unterscheidet. Im Gegenteil: Bürger und ihre Organisationen brauchen Macht, wollen sie nachhaltig etwas in ihrer Welt verändern. Deutlich kommt dieser positive Machtbegriff in einer Aussage des berühmten „schwarzen" Bürgerrechtlers Martin Luther King aus dem Buch Wohin führt unser Weg: Chaos oder Gemeinschaft? zur Sprache: „Macht, richtig verstanden, ist die Möglichkeit, etwas zu erreichen. Es ist die Stärke, die man braucht, um soziale, politische oder wirtschaftliche Veränderungen herbeizuführen. In diesem Sinne ist Macht nicht nur erwünscht, sondern auch notwendig, um die Forderungen von Liebe und Gerechtigkeit zu erfüllen. Eines der größten Probleme der Geschichte ist es, dass die Begriffe Liebe und Macht gewöhnlich als polare Gegensätze gegenüber gestellt werden. Liebe wird mit dem Verzicht auf Macht und Macht mit der Verneinung der Liebe identifiziert. -. Was wir brauchen, ist die Erkenntnis, dass Macht ohne Liebe rücksichtslos und schimpflich ist und dass Liebe ohne Macht sentimental und blutleer ist. Macht im besten Sinne ist Liebe, die die Forderung der Gerechtigkeit erfüllt.

... Das Problem liegt darin, dass die Macht in Amerika ungleich verteilt ist' (King 1968: 51). Man merke auf: Macht wird hier nicht als das Gegenteil von Liebe und Gerechtigkeit begriffen, sondern vielmehr als deren notwendige Ergänzung. So gesehen gehören Macht und Moral zusammen; wobei nicht darüber hinweggetäuscht werden darf, dass Macht auch korrumpieren bzw. missbraucht werden kann. Wird Macht also nicht grundsätzlich abgelehnt, dann stellen sich wichtige Anschlussfragen: Wer hat Macht? Wie ist Macht verteilt? Auch darin spricht sich eine spezifisch demokratische Haltung aus: Demokratie lebt in diesem Sinne von konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen. Indes kann eine Auseinandersetzung nur fruchtbar sein, wenn gleichwertige Parteien streiten, denn nur so kommt ein Prozess des Aushandelns zum Wohle aller in Gang, der schließlich zu tragfähigen Balancen führt. Deshalb stellt sich die Aufgabe, besonders denjenigen Menschen, die keine Stärke haben, zu Macht zu verhelfen. Dies intendiert CO um der Demokratie willen.

Grundsätzlich werden dabei zwei Formen von Macht unterschieden. Eine Machtquelle ist Geld. Da besonders ausgeschlossene und ausgegrenzte Gruppen meist nicht über Geld, mithin über Einfluss und Lobby verfügen, müssen sie sich eine andere Machtquelle erschließen: die Macht des Volkes.

Dementsprechend ist es ein Ziel, im CO möglichst viele Menschen zusammenzubringen, um gemeinsam stärker zu werden. Dabei setzt CO auf die Zivil- und Bürgergesellschaft, denn: „Bürgerliche Gesellschaft ist nicht so sehr eine Sphäre außerhalb der politischen Macht; sie dringt vielmehr tief in die Macht ein, fragmentiert und dezentralisiert sie" (Taylor 1993: 146).

So betrachtet geht es im CO auch um das Verhältnis von Zivil- und Bürgergesellschaft zur politischen Macht im Staate. Jetzt lässt sich fragen, wie sich CO zum Wohlfahrtsstaat und zur Wohlfahrtsmentalität verhält? Dazu einige skizzenhafte Ideen.

"Wellfare is hellfare" und die ambivalente Rolle der Sozialen Arbeit. Von Alinsky soll der Ausspruch "wellfare is hellfare" - frei übersetzt: Wohlfahrt ist eine Sache des Teufels - stammen. Richtig ist, dass der progressive Begründer des CO ein strikter Kritiker des Wohlfahrtskolonialismus war. Die Kritik stützt sich auf die Befürchtung, dass Wohlfahrt den Effekt haben kann, die Empfänger in Abhängigkeit von Fremdleistungen zu bringen. Von neoliberaler oder konservativer Seite wird diesbezüglich vorgebracht, dass Wohlfahrt zu Lethargie auf Seiten der Hilfsbedürftigen führe. Von eher „linker" Seite wird indes eingewendet, dass der Wohlfahrtskolonialismus letztendlich dazu diene, die bestehenden „falschen" Verhältnisse zu stabilisieren. Wie dem auch sei, im CO geht es darum, Bürgerinnen zu ermächtigen, ihre Angelegenheiten selbstbewusst in die eigenen Hände zu nehmen.

Indes darf daraus nicht der Rückschluss gezogen werden, dass der Sozialstaat durch CO aus seiner Verantwortung entlassen werden soll. Es geht nicht darum, dem Abbau des Sozialstaates durch die Aktivierung der Eigenverantwortung der Bürger Vorschub zu leisten. Vielmehr geht es um ein Verständnis, das gemäß der o. g. Unterscheidung zwischen Zivil- bzw. Bürgergesellschaft und Staat - schließlich ist das Subsidiaritätsprinzip auch eine grundlegend freiheitliche Maxime -, die Betroffenen selbst in die Lage versetzt, ihre Rechte, auch ihre sozialen Rechte, zu vertreten. Dabei wird klar unterschieden zwischen dem, was Bürgerinnen selber leisten können, und dem, was von anderen verantwortlichen Zielpersonen, etwa aus Politik und Wirtschaft, ggf. auch mit scharfen Aktionen einzufordern ist.

Mit diesem Verständnis hängt auch eine kritische Betrachtung der Rolle der Sozialen Arbeit zusammen. Solange es professionelle Soziale Arbeit gibt, wird diese von der Kritik begleitet, gesellschaftliche Probleme und deren Ursachen in Probleme einzelner Individuen umzudeuten. Soziale Arbeit trage mithin dazu bei, soziale Konflikte zu entschärfen und so die Chance auf Veränderung zu verspielen. Gewissermaßen verhindere Soziale Arbeit durch die fürsorgliche Belagerung von „Hilfsbedürftigen", dass diese sich wirklich selber helfen. Polemisch überspitzt: Soziale Arbeit hält - auch aus Existenzgründen - ihre „Klientel" in Abhängigkeit.

Demgegenüber handelt es sich beim CO um eine konsequente Form der Selbsthilfe, die vorhandene Konflikte nicht beschwichtigt, sondern katalytisch zur Veränderung nützt. Dies entspricht einer Haltung in der Sozialen Arbeit. die nicht länger an den Defiziten der Betroffenen, sondern vielmehr an deren Ressourcen ansetzen will. Damit verändert sich einerseits die Rolle des als hilfsbedürftig ausgemachten, und damit stigmatisierten Menschen. Andererseits ändert sich ebenfalls die Sichtweise von Professionellen: Im CO-Prozess treten möglicherweise Eigenschaften von Menschen zu Tage, die im Alltag sozialer Hilfsprozesse nicht gesehen werden. Indes kann ein solcher Perspektivenwechsel auch zu schweren Rollenkonflikten führen: Da mittels CO gewissermaßen von unten organisiert wird, kann dies mit Steuerungsprozessen in Konflikt geraten, die eher von oben angelegt sind, wie dies in wohlfahrtstaatlichen Arrangements oft der Fall ist, Mit CO stellt sich also die Frage: Wer beauftragt (und bezahlt) Soziale Arbeit eigentlich wofür?

In diesem Sinne verweist CO auf demokratiestarke politische Traditionen Sozialer Arbeit, wie diese etwa in der Settlement-Bewegung um die amerikanische Friedens- Hobelpreisträgerin Jane Addams in Chicago bereits um 1900 zum Ausdruck kommen (vgl. Eberhardt 1995). Die Settlement-Bewegung nimmt im Vergleich zur Einzelfallhilfe einen entschiedenen Perspek­tivenwechsel vor. Es geht darum, mit den Betroffenen solidarisch zunächst auf lokaler Ebene zu handeln, anstatt diese fürsorglich zu versorgen und gleichzeitig zu disziplinieren. Im Hintergrund hierzu steht in der Tradition des Pragmatismus (vgl. Oehler 2007) u.a. die Idee, Demokratie mit sozialem Leben zu füllen.

Folglich besteht auch mit einer neuerlichen Übernahme von CO-Strategien in die Soziale Arbeit die Chance, dass Soziale Arbeit ein an Demokratie orientiertes politisches Mandat wiedergewinnt. Der Vorteil wäre, dass Soziale Arbeit dabei nicht auf ein ihr fremdes oder spezifisches Ethos zurückgreifen muss, sondern vielmehr eine politische Maxime in Anschlag bringen kann, der sich ein großer Teil der Gesellschaft - noch?! - verpflichtet weiß. Es mag daran gezweifelt werden - ähnlich wie bei einer Orientierung an den Menschenrechten -, ob eine derartig generalistische Ausrichtung zur Professionalisierung hinreicht. Zumindest könnte Soziale Arbeit aber beitragen, politische Fragen in konkreten sozialen Lebensbezügen aufzuwerfen, etwa: Wie hängen Demokratie und Soziales zusammen? 


Der aktivierende Sozialstaat

Denn diese Frage wird aktuell wieder brisant. Seit nahezu 30 Jahren soll sich der Wohlfahrtsstaat in der Krise befinden. Der Krisensemantik zufolge sei der Wohlfahrtsstaat zu teuer, zu bürokratisch, wie vorgeblich ineffizient (vgl. Kaufmann 2009: 347ff). In der Folge wird der Wohlfahrtsstaat etwa zum aktivierenden Sozialstaat - Stichwort: „Hartz-Reformen" - umgebaut, der u.a. auf die Stärkung von Eigenverantwortung der Bürgerinnen durch deren Aktivierung setzt (vgl. Galuske 2004), Dabei wird das ehemals kooperatistische Modell des deutschen Sozialstaates - an dem auch Kritik zu üben ist - Schritt um Schritt zu einem individualistischen Modell verformt. Der Trend geht vom „wellfare" zum "workfare" Staat, der auf die Reaktivierung von Arbeitskraft abstellt. Dahinter steht eine neue Ordnungspolitik: Wurde der Wohlfahrtsstaat einstmals geschaffen, um die Lohnabhängigen und ihre Familien wenigstens zum Teil vor der Unbill des Kapitalismus zu schützen, so wird heute der Einzelne vom aktivierenden Sozialstaat gezwungen, sich m Kapitalismus zu jedem Preis, und sei dies der einer prekären Beschäftigung, zu vermarkten. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik nach Artikel 20 GG ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist. Den Gründungsvätern der Republik stand auch aus historischer Lehre vor Augen, dass eine Demokratie nur dann Bestand haben kann, wenn sie für sozialen Ausgleich und für die Mindestsicherung eines Lebens in Würde sorgt. So gesehen besteht die Gefahr, dass die neue Ordnungspolitik auch die Demokratie in Gefahr bringt. 


Von Gewerkschaften lernen?

Dem Umbau des Wohlfahrtsstaates zum aktivierenden Sozialstaat hat die Soziale Arbeit anscheinend nicht viel entgegenzusetzen. Dies liegt u. a. daran, dass Soziale Arbeit im Kern einer ähnlichen Aktivierungsideologie folgt. Ein markantes Beispiel hierfür ist der zur Floskel abgewertete Satz: Hilfe zur Selbsthilfe. Mehr noch: Wir behaupten somit, dass Soziale Arbeit als Akteurin, d.h. auf der Basis ihrer eigenen Handlungslogiken, im Prozess der aktuellen Neuprogrammierungsprozesse des Sozialen auftritt" (Kessl/Otto 2003: 62).

Vielleicht kann Soziale Arbeit hier von Gewerkschaften lernen, In der Gewerkschaftsarbeit wird CO wieder verstärkt wahrgenommen (vgl. Bremme 2007; Birke 2010). Diese Wiederentdeckung setzt ein Umdenken in Gang: Während sich Gewerkschaften traditionellerweise als Interessensvertretung ihrer Mitglieder verstehen, geht es im CO darum, Arbeitnehmer auch jenseits formaler Mitgliedschaft zu unterstützen, besonders dort, wo diese von schlechten Arbeitsbedingungen betroffen und von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Gewissermaßen geht die Gewerkschaft mit CO dorthin, wo es besonders weh tut. Diese Strategie soll auch dazu führen, den Mitgliederschwund umzukehren.

Was bedeutet dies für Soziale Arbeit? Mittels CO könnte die Soziale Arbeit nicht nur den Anschluss an demokratisches Denken und Handeln wiedergewinnen, wie sich dies auch in anderen Partizipationsmethoden findet. Mittels CO könnte die Soziale Arbeit auch wieder Anschluss an die schwierigen Lebenswelten von Betroffenen,. z. B. in benachteiligten Quartieren, finden. Und schließlich könnte mittels CO der Sozialen Arbeit auch der Anschluss an die Zivil- und Bürgergesellschaft und ihre Akteure, wie besonders Soziale Bewegungen, gelingen. Hier tut sich neben dem politischen Mandat auch Widerstandsgeist gegen den aktivierenden Sozialstaat auf: Selbst Alinsky steht im Verdacht, dem „unternehmerischen Selbst" Vorschub zu leisten (vgl. Bröckling 2007: 186ff.). Demgegenüber ist im CO das Empowerment von Bürgerinnen unabdingbar an deren demokratische Mitbestimmung gekop­pelt. Wer Selbstverantwortung übernimmt, muss gleichzeitig eine Stimme im Gang der Welt haben! Diese einfache Weisheit könnte die Soziale Arbeit einer einseitigen Aktivierungspolitik entgegenhalten. Wir werden sehen, ob sie dazu den „Spirit" findet....         


Literatur:

  • Arendt, Hannah (2000): Über die Revolution. München.
  • Addams, Jane (1913): Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago. München.
  • Alinsky, Saul David (1999): Anleitung zum Mächtigsein. Ausgewählte Schriften. Göttingen.
  • Birke, Peter (2010). Die große Wut und die kleinen Schritte. Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt. Berlin/Hamburg.
  • Bremme, Peter (2007): Never work alone. Organizing - ein Zukunftsmodell für Gewerkschaften. Hamburg.
  • Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.
  • Cromwell, Paul A. (2005): Nichts geht mehr? Blödsinn. Vieles lässt sich verändern - In: Crismon, 12/2005, 60-62.
  • Cromwell. Paul A. (2010): Community Organizing in Deutschland und Europa. In: Forum SOZIAL, 2/2010, 19-21
  • Eberhart, Cathy (1995): Jane Addams. Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Reformpolitik. Reinfelden und Berlin.
  • FOCO e.V. (Hrsg.) (1996): Forward to the roots. - Community Organizing in den USA - eine Perspektive für Deutschland? Bonn.
  • Galuske, Michael (2004): Der aktivierende Sozialstaat. Konsequenzen für die Soziale Arbeit. Text im Internet: » http:/www.ehs-dresden.de/fileadmin/uploads_hochschule/Forschung/Publikationen/Studientexte/Studientext_2004-04_Galuske.pdf (Abruf: 15.3.2010)
  • Goede, Wolfgang (2009): Obamas graue Eminenz: Saul Alinsky. In: F. M. History, Okt. 2009. 74-79
  • Kaufmann, Franz-Xaver (2009): Sozialpolitik und Sozialstaat. Soziologische Ana­lysen. Wiesbaden.
  • Kessl, Fabian/Otto, Hans-Uwe (2003): Aktivierende Soziale Arbeit - Anmerkung zur neosozialen Programmierung Sozialer Arbeit. In: Dahme, Hans-Jürgen et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat. Opiaden, 57-73.
  • King, Martin Luther (1968): Wohin führt unser Weg? Chaos oder Gemeinschaft. Frankfurt a.
  • M.Mohrlok, Marion et al. (1993): Let's organize. Gemeinwesenarbeit und Community Organizing im Vergleich. München.
  • Müller, Carsten (2009): Yes, we can!" - Barack Obama und Community Organizing. In: Sozial Extra, 1/2 2009, 6-9. Außerdem Online: » www.stadtteilarbeit.de
  • Obama, Barack (2009/1988): Warum Organisieren? Probleme, und Aussichten in den Innenstadtgebieten. In Verband für sozio-kulturelle Arbeit e.V. (Hrsg.). Rundbrief 2, 4-10.
  • Oehler, Patrick (2007): Pragmatismus und Gemeinwesenarbeit. Neu-Ulm.
  • Penta, Leo (Hrsg.) (2007): Community Organizing. Menschen verändern ihre Stadt. Hamburg.
  • Szynka, Peter (2005). Theoretische und empirische Grundlagen des Community Organizing bei Saul D. Alinsky (1909-1972) -Eine Rekonstruktion. Bremen.
  • Taylor, Charles (1993): Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft in politischen Denken des Westens. In: Brumlik, Michael, Brunkhorst, Hauke (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 117-148.
  • Tocqueville, Alexis de (1967): Über die Demokratie in Amerika. In: Ders.: Das Zeitalter der Gleichheit. Auswahl aus Werken und Briefen; Köln und Opladen, 1-116.