Bürgerschaftliches Engagement als Lösung in der Krise der Arbeitsgesellschaft und des Sozialstaates?

Kontakt:

Chantal Munsch, Sozialpädagogisches Institut, TU Dresden, Tel.: 03 51/ 4 63 63 32, Fax.: 03 51/4 63 71 74;
Projekt: Ulrich Ringen, Stadtteilhaus Gröba, Tel.: 0 35 25/73 19 06, Fax.:0 35 25/73 1926


Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und der Krise des Sozialstaates wird bürgerschaftliches Engagement heute von verschiedenen Seiten als nahe liegende Lösung propagiert. Konzepte in Anlehnung an den Bericht der Bayrisch-Sächsischen Zukunftskommission richten sich auf die lokale Vermittlung von sinnvollen Tätigkeiten für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Denn besteht das Bedrückende an der Arbeitslosigkeit in der damit verbundenen Untätigkeit, dann scheint durch die Beteiligung an einem solchen Programm das Problem gelöst. Dass für diese Bürgerarbeit wenig oder kein Lohn gezahlt wird, ist Teil des Konzeptes und unter anderem ein Mittel, den Begriff der Arbeit von jenem der Erwerbsarbeit zu lösen.
Diese Vorschläge müssen im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Diskurs um den Sozialstaat verstanden werden. Sie fallen in eine Zeit, in der soziale Leistungen immer öfter unter dem Kostenaspekt thematisiert werden. Soziale Dienste und Transferleistungen sind nicht mehr selbstverständlich. „Mehr Geben als Nehmen"1 heißt die Devise. Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger sollen nicht mehr einfach von öffentlichen Geldern profitieren, sie sollen etwas tun für ihr Geld. Ihnen wird damit implizit unterstellt, nicht arbeiten zu wollen. Eine Kürzung der Transferleistungen bei Verweigerung der vorgeschlagenen Tätigkeiten wird nicht ausgeschlossen. Davon, dass Gelder hauptsächlich für erbrachte Leistungen, kaum mehr für so genanntes „Nichtstun" bezahlt werden, erhoffen sich öffentliche Stellen erhebliche Einsparungen. Die Vergabe sinnvoller Tätigkeiten an Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger schafft also Beschäftigung und dadurch gesellschaftliche Integration. Sie hilft außerdem, öffentliche Kosten einzusparen, die bei einer Vergabe der zu erledigenden Aufgaben auf dem ersten Arbeitsmarkt anfallen würden.
Eine solche Reduktion von bürgerschaftlichem Engagement auf individuelle Bewältigung von Arbeitslosigkeit und Legitimation von bezogenen Transferleistungen vergisst jedoch deren ursprünglichen gesellschaftspolitischen Sinn als Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen am öffentlichen Leben. Wird heute von der Förderung bürgerschaftlichen Engagements gesprochen, dann wird dabei allzu oft vergessen, dass es sich dabei um eine dritte gesellschaftspolitische Kraft neben Staat und Wirtschaft handelt, die in ganz verschiedenen Gebieten - z.B. Schule, Umwelt oder Friedenspolitik -aufdringende gesellschaftliche Probleme aufmerksam machen kann und muss. Sie ist ein notwendiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft, welche die Teilnahme ihrer Bürger und Bürgerinnen nicht auf die Wahl ihrer politischen Repräsentanten beschränken will. Sollte sie als Zwangsmittel zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit missbraucht werden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eben jene demokratische Kraft eher geschwächt denn gefördert wird.
Einem zweiten Aspekt muss hier ebenfalls Rechnung getragen werden: bürgerschaftliches Engagement als Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen am öffentlichen Leben ist ein Konzept der Mittelschicht. Ausbildungsgrad, Erwerbstätigkeit und Höhe des Einkommens sind drei Merkmale, welche in engem Zusammenhang mit dem Engagement sowohl in Vereinen, Verbänden und sozialen Diensten als auch in Bürgerinitiativen, Parteien oder in der Kommunalpolitik stehen2. Erwerbstätige Bürger und Bürgerinnen mit höherer Ausbildung und Einkommen verfügen eher über die notwendigen Ressourcen, ihre Interessen zu artikulieren und sich für sie einzusetzen. Streben wir im Sinne einer wahrhaft demokratischen Ge­sellschaft ein bürgerschaftliches Engagement von Bürgern und Bürgerinnen aller Schichten und Milieus an, dann müssen wir jene unterstützen, welche traditionell nicht über die Mittel für ein solches Engagement verfügen. Hier sind Räume und sozialpädagogische Methoden wie Gemeinwesenarbeit3 und Empowerment4 gefragt. Ziel ist also doch die Förderung bürgerschaftlichen Engagements, jedoch nicht als individuelle Bewältigung von Arbeitslosigkeit oder sogar als Legitimation für empfangene Transferleistungen sondern im Sinne einer stärkeren Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen am öffentlichen Leben.


Ein Beispiel aus Riesa

Im zweiten Teil dieses Artikels möchte ich nun ein Konzept sowie erste Erfahrungen aus einem Projekt in Riesa vorstellen, welches versucht, den oben vorgestellten theoretischen Ansprüchen gerecht zu werden. Die Stadt Riesa, insbesondere der Stadtteil Gröba war bis zur Wende von einer regen industriellen Tätigkeit - hauptsächlich durch das Stahlwerk, aber auch durch verschiedene kleinere Betriebe wie z.B. die Zündholz- oder die Teigwarenfabrik - geprägt. Nach der Wende brachen diese verschiedenen Betriebe zusammen. Ihre Produktion war den neuen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Die alten Standortfaktoren Hafen und Eisenbahn zählen nicht mehr. Heute hat Riesa eine Arbeitslosenquote von über 20 %, die vielen Frührentner nicht eingerechnet.
In dieser Situation baute die Diakonie Riesa im Stadtteil Gröba ein integriertes Netz sozialer Hilfen auf. Ausgehend von einem Qualifizierungs- und Beschäftigungsprojekt - dem Sprungbrett - und einem Stadtteilhaus entstanden eine Fahrradwerkstatt für straffällig gewordene Jugendliche, intensivsozialpädagogische Einzelbetreuung und ein Projekt für Schulverweigerer. Im Laufe der Entwicklung und Ausweitung dieser verschiedenen Projekte kamen die Praktiker/innen jedoch zu der Erkenntnis, dass sich soziale Arbeit nicht nur um eine immer umfassendere Betreuung der Menschen im Stadtteil kümmern kann, sondern die Verantwortung für das soziale Leben im Stadtteil den Bewohner/inne/n in einem ressourcenorientierten Ansatz zumindest zum Teil wieder zurückgeben werden muss. Gerade für ein Leben mit Arbeitslosigkeit - und das betrifft hier viele Einwohner/innen5 - werden die kulturellen Ressourcen im Stadtteil besonders wichtig. Sie können durch ein sozialpädagogisches Projekt nur gefördert, nicht aber ersetzt werden. Ziel des Projektes ist nun die Aktivierung des Stadtteils hin zu mehr Integration durch bürgerschaftliches Engagement und Beschäftigung. Ein wichtiger Aspekt besteht in der Symmetrie dieses Engagements. Sie bedeutet, dass Bürger aller Schichten ihren Stadtteil mitgestalten, und nicht nur diejenigen, die schon über die notwendigen Ressourcen verfügen, um ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen.
Seit Januar 1999 versuchen nun die einzelnen Projekte gemeinsam, diesem Ziel mit verschiedenen sozialpädagogischen Methoden näher zu kommen. Im Rahmen des Stadtteilhauses wird eine Gruppe von langzeitarbeitslosen Menschen unterstützt. Sie treffen sich regelmäßig, um gemeinsam über ihre Erfahrungen und ihre Situation am Rande der Gesellschaft zu reden und sich gegenseitig zu unterstützen. Indem sie in diesem Rahmen lernen, ihre Interessen zu artikulieren, sollen sie das Selbstvertrauen und die Fähigkeit erwerben, sie später mit anderen Bürgern und Bürgerinnen und vor Politikern und Politikerinnen darzustellen. Neben diesem Austausch beginnen sie, sich aktiv am Leben des Stadtteilhauses, z.B. im Rahmen von Festen, zu beteiligen. Im April fand eine aktivierende Befragung statt. Anhand einer schriftlichen Umfrage und mündlicher Interviews wollten wir herausfinden, wo die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger und Bürgerinnen in Bezug auf ihren Stadtteil liegen. Gleichzeitig sollten sie ermuntert werden, sich für ihre Interessen einzusetzen. Zu diesem Zweck wurde im Mai eine erste Stadtteilkonferenz durchgeführt. Hier wurden die Ergebnisse der Befragung vorgestellt, z.B. dass sich die Befragten in erster Linie Begegnungsstätten wünschen, aber auch eine Verschönerung ihres Stadtteils und mehr Räume für Kinder. Die  Vorstellung dieser Ergebnisse mündete in eine animierte Diskussion, aus der erste Gruppen von Bürger entstanden, die sich einer bestimmten Problematik annehmen wollten.
Neben weiteren Stadtteilkonferenzen sind noch zwei andere Projekte geplant, um das Engagement und die Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen zu fördern. Zum einen soll auf dem Gelände des Stadtteilhauses ein Cafe als Begegnungsort errichtet werden. Es wird zusammen mit Bewohnern und Bewohnerinnen geplant und bietet auf diese Weise eine konkrete Möglichkeit, das Leben im Stadtteil mitzugestalten. Außerdem bietet es Raum für Beschäftigungsmöglichkeiten, z.B. beim Ausschank.
Beschäftigungsmöglichkeiten sollen auch durch eine noch zu entwickelnde Tätigkeitsbörse geschaffen werden. Hier sollen Dienstleistungen für Privatleute und Firmen aus dem Stadtteil angeboten werden. Auf diese Weise sollen zum einen der Nachfrage nach bezahlter Tätigkeit Rechnung getragen und zum anderen Kontakte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen hergestellt werden. In die Reflexion um sinnvolle Tätigkeiten im Gemeinwesen und ihre Organisationsformen müssen nicht nur Bürger und Bürgerinnen sondern auch die lokale Wirtschaft und Politik einbezogen werden.
Nach dem ersten halben Jahr kann von einer bescheidenen Aktivierung sowohl im Rahmen der Langzeitarbeits-losengruppe als auch im Anschluss an die Stadtteilkonferenz gesprochen werden. Zu einem symmetrischen Engagement ist es jedoch noch ein langer Weg. So waren auf der Stadtteilkonferenz hauptsächlich gut integrierte Bürger und Bürgerinnen vertreten, z.B. die Vorsitzende des örtlichen Einzelhandelsverbandes oder der Leiter der freiwilligen Feuerwehr. Aus der Langzeitarbeitslosengruppe, die in die Vorbereitungen der aktivierenden Befragung einbezogen worden war, waren nur zwei Personen gekommen. Einer von ihnen erzählte mir später, die dort geäußerten Ziele fände er viel zu hoch. Wenn man groß rauskommen wolle, dann müsse man klein anfangen. Er hätte dort nicht mitreden können.
Hier kann man zwei Schwierigkeiten bei der Aktivierung eines symmetrischen Engagements erkennen. Das ist zum einen die unterschiedliche Zeitstruktur: wenn Bürger und Bürgerinnen der Mittelschicht die Entscheidung fassen, sich zu engagieren, dann wollen sie gleich damit anfangen. Bei diesem schnellen engagierten Anfang fühlen sich Menschen am Rande der Gesellschaft oft überfordert. Zum zweiten suchen Erstere bei ihrem Engagement eher nach einer Herausforderung. Sie setzen sich hohe Ziele, während Letztere eher mit kleinen Schritten anfangen wollen. Hier wird klar, dass eine lokale endogene Entwicklung, die auf der Beteiligung vieler unterschiedlicher Bürger und Bürgerinnen beruht, viel Zeit und Geduld erfordert. Die Förderung sozialer Integration in den Stadtteilen durch bürgerschaftliches Engagement und Tätigkeiten ist jedoch ein Ziel, für das sich die Geduld lohnt - besonders als Gegengewicht zu Konzepten, in denen bürgerschaftliches Engagement als individualisierende Bewältigungsstrategie von Arbeitslosigkeit und als Rechtfertigung für bezogene Transferleistungen missbraucht wird.


Anmerkungen

1 Dettling, W. (1997): Mehr Geben als Nehmen. In: Ries, H.A./Elsen, S./Steinmetz, B./Homfeldt, H.G. (Hrsg.): Hoffnung  Gemeinwesen. Neuwied: Luchterhand.
2 Erlinghagen, M./Rinne, K./Schwarze, J. (1999): Ehrenamt statt Arbeitsamt? Sozioökonomische Determinanten ehrenamtlichen Engagements in Deutschland. In: WSI Mitteilungen 4/1999, S. 246 - 255.
3 Vgl. z.B. Hinte, W., Karas, F. (1989): Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit. Neuwied u. Frankfurt a.M.: Luchterhand.
4 Vgl. z.B. Stark, W. (1996): Empowerment. Neue Handlungskompetenzen in der psychosozialen Praxis. Freiburg i.B.: Lambertus
5 Die Auswertung der Fragebögen im Rahmen der aktivierenden Befragung hat gezeigt, dass fast die Hälfte der Bewohnerinnen zwischen 25 und 65 nicht ins Erwerbsleben integriert ist. Etwa 22°/o sind arbeitslos, 25% sind schon in Rente, nur knapp 3°/o bezeichnen sich als Hausfrau.