Konflikt und Versöhnung

Zur Dialektik von instrumenteller Protestgewalt und emanzipativem Ziel


I. Mit Konflikten leben?

1. Schlechte Versöhnung und mythischer Wiederholungszwang der Geschichte

  1. »Es ist zwar selbstverständlich und unvermeidlich, dass wir in Konflikten leben. Es ist aber gar nicht selbstverständlich, dass wir mit Konflikten leben. Das will geübt sein. ... Schon das wäre viel, wenn wir mit dem Unvermeidlichen einigermaßen umzugehen lernten...« heißt es programmatisch im Vorbereitungsheft des Dortmunder Deutschen Evangelischen Kirchentages »Mit Konflikten leben« (1963). Aber das Unvermeidliche, in das einzuwilligen hier (entsagungsvoll trutzig) empfohlen wird, das Diktat des Schicksals, welches als dura necessitas hinzunehmen hier nahegelegt wird, welcher Art ist es denn? Es ist laut Auskunft der Veranstalter der »vorläufige Bestand unserer Welt«, und »zu diesem Bestand gehören ihre Gegensätzlichkeiten und Konflikte. Das ist so in der Natur, wo der Tod des einen das Leben des anderen ist. Das ist so in unserer menschlich-irdischen Geschichte, die ohne die immer wieder neu aufbrechenden Widersprüche und Auseinandersetzungen nicht denkbar ist.« Versöhnung wäre, folgt man dieser Logik konsequent, die Anpassung an ein Realitätsprinzip bitterer Naturwüchsigkeit, wobei der Unterschied zwischen kreatürlichem Leiden und von Menschen verursachten, also gesellschaftlich auch wegarbeitbaren Leiden, letztlich verwischt wird [1].
    Während kritische Friedensforscher die jeweiligen Entstehungsbedingungen kriegerischer Konflikte immer lückenloser historisch-genetisch aufzudecken beginnen [2], während die Suche nach rationalen Erklärungsmodellen für irrationales Konflikt-Verhalten, speziell die sozialwissenschaftlich orientierte Psychoanalyse menschlicher Aggressivität nicht ergebnislos verläuft [3], bleiben viele Verfechter jener politischen Metaphysik der Naturwüchsigkeit dabei, die politischen Makro- und die individuellen Mikro-Konflikte unter einem mythischen Wiederholungszwang der Geschichte zu sehen. Kriegerische Konflikte werden auf diese Weise zu Naturkatastrophen, politische Herrschaftskonflikte zu archaischen Antagonismen. Solcher Mystifizierung der fundamentalen Konflikte des gesellschaftlichen Lebens zu einer apokalyptischen Grundfigur korrespondiert in der entsprechenden religiösen und politischen Tradition dann fast zwangsläufig die Behauptung, auch drückende Klassen und Herrschaftsgefüge samt den sie legitimierenden Ordnungssystemen innerer und äußerer Konfliktabwehr seien letztlich doch nicht aufzuheben.
  2. Fazit: Hat man, wie angedeutet, die apokalyptisch totalisierte Grundfigur des Konflikts so zu einer Naturmechanik der Gesellschaft aufgebauscht (deklariert), dann kann Versöhnung entweder nur mehr 1.) die bittere Versöhnung sein, die in getroster Verzweiflung lehrt, mit den jeweiligen Konflikten »realistisch« zu leben. Nicht das Wahre, sondern das Praktikable wird fortan - notgedrungen natürlich - Maßstab eigenen Handelns. Versöhnung gerät auf diese Weise in die Nähe eines fidelen peccafortiter Zynismus, zumindest in die Nähe ideologischer Pazifizierung und funktionalistischer Legitimierung. In jedem Fall - bittere Skepsis im Blick auf die menschliche Lern- und Erneuerungsfähigkeit lahmt jede Reformlust, und die sozial-ökonomischen Rahmenbedingungen des gegebenen Systems werden nicht mehr erneuernd in Frage gestellt.
    Oder Versöhnung ist dann 2.) die ideale Versöhnung, ein reiner Zustand oberhalb der jeweiligen konfligierenden Seiten oder hinausgeschoben in eine Zukunft, über die zu verfugen ohnehin nicht mehr Menschending ist. Oberhalb der Ordnung der Geschäfte oder nach deren absolutem Ende, idealistisch transzendiert oder religiös futurisiert - beide mal gerät ein politisches Handeln, das auf umfassende politische Versöhnung mit der jetzigen Gesellschaft zielt, unter Utopieverdacht, sieht sich respektvoll mitleidig emporgehoben über alle Fronten, entrückt in transpolitische Überparteilichkeit.
  3. Noch unter dem Eindruck des Faschismus konzipiert und antithetisch auf den Spätstalinismus fixiert, spiegelt solche pessimistische Hochstilisierung der individuellen und institutionellen Konflikte zu blinden; absoluten Schicksalsgesetzen zunächst die Nachkriegsphase des Kalten Krieges der Großmächte: Das ständige Ausbalancieren des nuklearen Abschreckungsterrors, also das raffinierte Wachhalten ständiger Angst beim Gegner und der Gewaltbereitschaft im eigenen Lager erschien in den fünfziger Jahren ja vielen als die beste Form der Konfliktregelung. Kein Wunder, das Thema des Konflikts tauchte in solcher Perspektive primär nur als Problem seiner Eindämmung auf: Gewalt und Chaoskräfte »drüben« eindämmen, nicht so sehr Aufhebung sozialer Konfliktursachen »hier« [4]. Erst Mitte der sechziger Jahre, im Zuge der studentischen Reformbewegung, wurden die bis dato übersehenen, enormen innergesellschaftlichen Unfriedensstrukturen »hier« ins Licht kritischer Öffentlichkeit gerückt. Konflikte mit Herrschaftsgewalt in allen Bereichen wurden nicht länger vermieden. Die kreative Bedeutung gerade regionaler Konflikte für eine soziale Politisierung des (besitz-)bürgerlichen Gewissens wurde entdeckt, die Lernbedeutung eines unmittelbar konfliktorientierten Verhaltens für die Schlechtweggekommenen und Erniedrigten in unseren eigenen Betrieben und Kommunen. Seither gerät der tief eingefleischte, konfliktakzeptierende Pessimismus der selbsternannten »Realisten« (»Mit Konflikten leben«) ebenso wie der gleichursprüngliche, konfliktlegitimierende Optimismus der Liberalkonservativen - Beispiel: Dahrendorfs Rechtfertigung aller Konkurrenz-Konflikte zwischen Ungleichen als notwendiger Triebkraft gesellschaftlicher Dynamik [5] - in stärksten Widerspruch zu der breiten Welle kollektiver Selbsthilfe-, Mitbestimmungs- und anderer Bürger-Initiativen, deren Träger entschlossen scheinen, die Zukunft der, sozialen Ungleichheit »hier«, in. ihrem unmittelbaren Nahbereich, etwas freundlicher zu machen. Sie wissen: Das operative Ziel einer Versöhnung kommunalpolitischer Entzweiungen wird erst dann erreichbar, wenn die Unfrieden stiftenden konkreten Konflikte mit der jeweiligen Herrschaftsgewalt nicht länger umgangen, sondern tatsächlich durchgehalten und ausgetragen worden sind.

2. Konfliktabwehr und innenpolitischer Friede

  1. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre treten andererseits innenpolitische Konflikte umso schärfer zutage, je mehr die Ost-West-Spannungen in Europa durch umfassende Konfliktregelungen zurückgedrängt werden. »Die so lange nach draußen, gewissermaßen in die Waffenarsenale verdrängte Gewalt wandert nun wieder ins Innere ein« (Claus Koch). Entsprechend verstärkt sich der publizistisch-pädagogisch vermittelte Druck auf den Bürger, sich angesichts der wachsenden Gewalt in der Gesellschaft seinerseits (allezeit) friedfertig zu erweisen. Gesellschaftliche Versöhnung verkümmert unter solchen Umständen aber zur sozialen Befriedung und der soziale Friede zur Konfliktdidaktik von oben. Über Nacht quasi avanciert dann auch die »Friedenserziehung« zum prominenten Leitprogramm all derer, die als politisches Lernziel daraus ableiten; kompromissbereite Einsicht in die Notwendigkeit im Rahmen des gegebenen Systems. »Toleranz« und »Kompromiss« auf der internationalen Konfliktebene befreiende Faktoren, werden autoritativ auch zu innenpolitischen Verbindlichkeiten. Unterschiedslos die funktionale Regulierung aller Konflikte zum Lernziel erheben und dies auch noch als friedenspolitischen Fortschritt ausgeben, bedeutet, 'der Unterdrückte solle allezeit Toleranz gegen den Unterdrücker üben [6].'Der neue Ruf nach rascher technischer Planung des so malträtierten innenpolitischen Friedens [7] - womöglich die subtilste Form schlechter Versöhnung - ergeht aber nicht von ungefähr. Er steht im Zusammenhang folgender Geschehnisse:
  • dem Wiedererscheinen ökonomischer Krisenbewegungen im nationalen Binnenbereich seit den Septemberstreiks von 1969 und dem. Zutagetreten wachsender vertikaler Ungleichheiten.
  • dem Schockerlebnis absoluter Begrenztheit wirtschaftlichen Wachstums im unmittelbaren Nahbereich und dem Schockerlebnis der Umkehrbarkeit des bisherigen internationalen Systems organisierter Abhängigkeit der Dritten Welt, ausgelöst durch die Lieferungsboykotts der rohstoffreichen Entwicklungsländer des Vorderen Orients (Energieversorgungskrise). - der ärgerlichen Erfahrung einer offenbar strukturellen Unfähigkeit eines profitökonomisch motivierten politischen Handlungssystems, befriedigende Lebensverhältnisse im Bildungs-, Verkehrs-, Wohnungs- und Umweltkomplex möglich zu machen.
  • der unbestimmten Einsicht, dass eine profitorientierte Lebensorientierung auch das Glück und die mögliche Lebens-Wahrheit des Einzelnen nur in Kategorien des wirtschaftlich Verfügbaren zulässt. Das Empfinden, trotz ungeheurer Anstrengungen dabei letztlich ungeschützt zu bleiben, hat eine konfliktreiche Suche nach authentischen Lebensformen, nach gelingendem Leben zur Folge. Und diese Suche nach einer menschenfreundlichen, den Einzelnen tragenden Kommunikation, in der man sich halten kann vor den institutionellen und moralischen Superstrukturen, gegenüber den pausenlos vorgebrachten Imperativen von außen und innen, hat ihrerseits, obwohl gerade nicht mehr in Kategorien des Tauschprozesses einfangbar, den bestandskritischen Charakter eines öffentlich politischen Wohlfahrtsziels angenommen.

Eine gouvermentale Verwaltung solcher Konflikt-Potentiale wird zusehends schwieriger. Die Steuerungskapazität des Staates mochte noch hinlangen, solange wirtschaftliches Wachstum noch als größtmögliche Gewährung von Lebensqualität galt. Haben sich aber die destruktiven Folgen einer am Akkumulationsprozess orientierten Wachstumspolitik erst einmal unübersehbar herausgestellt, gerät das politische System in die Versuchung, das politische Wohlfahrtsziel »Lebensqualität« nur neben dem wirtschaftlichen Wachstumsprogramm zu realisieren [8]. Die systemkonforme Befriedung und die motivationale Integrierung all jener neuen, auf politisch strukturelle Verbesserung zielender Bedürfnisse und Konflikte, denen mit den verfügbaren Mitteln staatlicher Daseinsvorsorge nicht mehr beizukommen ist, soll denn von einer »Erziehung zum sozialen Frieden« geleistet werden. Universale, längst gesellschaftsallgemein gewordene Bedürfnisse würden damit aber wieder zu bloß individuellen partikularisiert. Solche veröffentlichte, bloß private Form der Versöhnung, die dritte Variante schlechter Versöhnung neben den oben skizzierten der bitteren und der idealen Versöhnung, gerät neuerdings jedoch in die Krise. Eine reprivatisierende und daher depolitisierende Konfliktregulierung gelingt ja nicht mehr reibungslos, seitdem jene neuen Bedürfnisse sich in zahllosen heterogenen Bürger-Initiativen materiell auch als sanktionsfähige politische Interessen öffentlich darstellen, und durchsetzen. Die Forderung nach einer politisch systematisch zu verbessernden Qualität des Lebens, die sich in solchen neuen, entstaatlichten Formen politischer Willensbildung [9] meldet, mag staatlichen und kommunalen Administrationen noch so lästig sein. Sie stehen, seitdem die zweite sozialliberale Koalitionsregierung in ihrer Regierungserklärung vom 18.1.1973 den Zielbegriff der »Lebensqualität« als innenpolitisches Fortschrittskriterium festlegte, unter wachsendem; Erfolgszwang den so definierten Fortschritt« auch ihrerseits zu implementieren. Staatliche und kommunale Administrationen müssen also das, was sie intern als dysfunktionale Subversion von unten empfinden gleichzeitig von außen als zieladäquate Emanzipation deklarieren, wollen sie nicht in permanente Legitimationskonflikte geraten. Was als umgreifende Integration gemeint war, schlägt folglich zurück auf schrittweise Emanzipation.
Ihrer inhärenten Dynamik nach ist deshalb die Forderung einer politisch zu verbessernden Qualität des Lebens eine Forderung nach einer neuen, ziel- und bestandskritischen Friedenserziehung, nach einer Didaktik individueller und gesellschaftlicher Befreiung, deren Spuren sich zeigen in den neuen, im folgenden skizzierten Versuchen offensiver Sozialpraxis.
 

Kirchhorst, 23. September 1945
Ich bin nur ein Gast auf Erden,
oben ist mein Vaterland;
wird die Welt zerstöret werden,
so geht an mein Ehrenstand.

Johann Jakob Rambach 1693—1735

 

Das sind die Christen, die uns gefehlt haben.

Aus: Ernst Jünger,Jahre der Okkupation, Stuttgart, 1958, S. 173


II. Aggressiv und disruptiv?

Die Selbstbestimmung der sozial Ohnmächtigen im Konfliktfeld gesellschaftlicher Macht-Interessen
Italienische Militärseelsorger bezeichneten 1965 in einer Erklärung die Kriegsdienstverweigerung als »Beschimpfung des Vaterlandes und seiner Gefallenen.« Sie erhoben die Forderung, es müsse endlich Schluss gemacht werden mit jeder »Diskriminierung der Soldaten aller Fronten und Uniformen, die sich sterbend für das heilige Ideal des Vaterlandes geopfert haben.« [10]
Gegen sie erhob sich die Stimme eines Landpfarrers, Lorenzo Milani, der zur gleichen Zeit im toskanischen Landflecken Barbiana das bislang beispiellose Experiment einer situationsspezifischen politischen Alphabetisierung der Armen unternahm.
Außerhalb der pädagogischen und politischen Konvention, unter wachsender Diskriminierung der kirchlichen Obrigkeit, versuchte er, »den Armen die Sprache zu geben, um ihnen zu helfen, Menschen zu sein« [11] Milanis Antwort auf die Klage der Militärgeistlichen enthält die schärfste Antiposition gegen jene politische Metaphysik permanenter »Versöhnung« mit den herrschenden Konflikt-Strukturen, speziell gegen eine religiöse »Versöhnung« der Großkirchen mit Krieg und Kriegsdienst als den quasi naturhaften Grund-Konflikten des Lebens. Don Milani: ». . . wenn Ihr Euch das Recht nehmt, die Welt in Italiener und Ausländer einzuteilen, so kann ich Euch nur sagen, dass ich in dem von Euch gebrauchten Sinn des Wortes kein Vaterland habe, sondern dass ich das Recht in Anspruch nehme, die Welt in Arme und Unterdrückte einerseits, Bevorrechtete und Unterdrücker andererseits einzuteilen. Die Ersteren sind mein Vaterland, die anderen meine Ausländer. Und wenn Ihr ohne bischöflichen Einspruch lehren könnt, dass es rechtens, sogar heldenhaft sei, wenn sich Italiener und Ausländer gegenseitig niedermetzeln, so verlange ich das Recht zu sagen, dass die Armen die Reichen bekämpfen dürfen und sollen. Zumindest in der Wahl der Kampfmittel bin ich besser als Ihr: die Waffen, die Ihr gutheißt, sind entsetzliche Maschinen, hergestellt um zu morden, zu verstümmeln, zu zerstören und Waisen und Witwen zu schaffen. Die einzigen Waffen, die ich gelten lasse, sind edel und unblutig: der Streik und die Wahlen.« Diese Antwort eines Landpfarrers, artikuliert bereits Einsichten, die Jahre später erst, im Zuge der studentischen Reform-, der Bürgerrechts- und der Antikriegsbewegung eine öffentlich politische Manifestation und im Anti-Rassismus-Programm der protestantischen Weltkirche dann eine operative politische Zuspitzung bekommen:

  1. Nicht Überparteilichkeit, sondern unmissverständliche Parteinahme für eine Konfliktpartei, nämlich für die Ohnmächtigen und Entrechteten konstituiert eine versöhnende Praxis [12],
  2. Versöhnung bekommt dann, im Gegensatz zu ihrer ideologisch pazifizierenden und funktionalistisch legitimierenden Rolle eine kritische Ausrichtung, gießt nicht die Sauce des allgemeinen Guten über alles, sondern negiert konkret, was der Versöhnung hier und dort im Wege steht. Unversöhnlicher Konflikt mit Herrschaftsgewalt ist dann erstes, integrales Prozessmoment versöhnender Praxis, die negatorisch-kritische Phase der Befreiung aus Entzweiung.

1. Offensive Sozialpädagogik

Die Einsicht, dass Versöhnung in internationalen wie in kommunalen Spannungsfeldern nicht ohne entschiedene Konfliktorientierung erreicht werden kann, hat sich in jüngster Zeit auch bei Vertretern einer kritischen Sozialarbeit ebenso schnell durchgesetzt wie bei denjenigen politischen und kritisch-religiösen Gruppen, die nicht mehr in bloß äußerlicher Loyalität partei-, konfessions- oder sonstwie äußerlich institutionsorientiert arbeiten, sondern die sich von den Nöten und Bedürfnissen der jeweils Benachteiligten bewegen lassen. Seit Ende der sechziger Jahre, nach dem Abschluss der wirtschaftlichen Rekonstruktionsperiode in der BRD, konnte auch das beschwichtigende Diktum von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft (Schelsky) nicht länger darüber hinwegtäuschen, dass der Republik trotz fundamentaler demokratischer Strukturreformen die soziopolitischen Kennzeichen einer kapitalistischen Klassengesellschaft anhaften [13]. Wachsende Unterschiede im Blick auf Einkommensniveau, Besitz, formellen Einfluss und Bildungschancen traten zutage. In den Städten ließ sich eine beängstigende Entwicklung beobachten:

  • die Errichtung von antikommunikativen Schlafstädten am Stadtrand, deren soziale Folgeeinrichtungen nicht einmal in der Planung existierten,
  • die Flächensanierung innerstädtischer Wohnquartiere,
  • das Scheitern der etablierten sozialpädagogischen Praxis, die anschwellende Zahl alter und neuer Randgruppen dem Arbeitsmarkt zu integrieren.

Die Sozialpädagogik, bis zum Ende der sechziger Jahre noch immer die Normen bürgerlicher Moralität auch gegenüber denjenigen durchsetzend, die sie als »Abweichler«, »Verwahrloste« und »Kriminelle« nicht erfüllen konnten, war fixiert auf die Disziplinierung und Kontrollierung einer Delinquenz, die ihr nur als Resultat individueller Bosheit vorkam, nicht als Symptom des gegebenen gesellschaftlichen Systems mit dessen ungelösten Widersprüchen. Sozialpädagogik dieser Zielrichtung bleibt defensive Sozialpädagogik, »festgelegt auf die Rolle einer sozialen Feuerwehr, die erst dann und möglichst unauffällig in Aktion treten sollte, wenn das Feuer ausgebrochen war.« [14] Kritik an der herrschenden Bewertung abweichenden Verhaltens, am naiven Zynismus der »Verwahrlosungs«-Definition, am Primat der Heimeinweisung, an der Missachtung von Grundrechten in Erziehungsheimen, an der Hintansetzung sozialpädagogischer Aufgaben gegenüber leistungsschulischen Normen, und - last not least - am Fehlen sozialisationsgeschichtlicher und -theoretischer Elementareinsichten hat schließlich zu einer kritischen Sozialpädagogik geführt. Die Wendung zu einer offensiven Sozialpädagogik erfolgt, streng genommen, also erst da, wo die institutionelle Sozialarbeit nicht länger für, sondern mit den Betroffenen (Selbstorganisation) als Reformbewegung von unten freigegeben wird. Sie richtet sich notfalls auch gegen die kommunalbürokratischen Reformstrategien von oben (»Bürgernahe Verwaltung« etc.), welche unter dem Imperativ gesamtstaatlicher Konjunktursteuerung eine flexiblere Planungspolitik aufbieten müssen.

2. Gemeinwesenarbeit - Haupttypen

Offensive Sozialpädagogik solcher Stoßrichtung geschieht vor allem als Gemeinwesenarbeit (community Organisation), der dritten Methode der Sozialarbeit neben den schon klassischen Konzepten der Einzelfallhilfe (case work) und Gruppenarbeit (group work). Nach Ansatz und Methode differieren die verschiedenen Konzepte von Gemeinwesenarbeit allerdings so stark, dass sich mindestens drei verschiedene Typen herauskristallisieren lassen [15]:

  1. Koordination, Kooperation, System-Interessen: die sozialtechnisch harmonisierende Gemeinwesenarbeit (Ross):
    Sie geht aus vom Desiderat aktiver Beteiligung möglichst vieler Bewohner eines Wohnquartiers bei der Beseitigung partikulärer, systemimmanenter Missstände. Sie basiert auf der reformpädagogisch integrativen Spekulation, durch Selbsthilfe der Bürger würde eine ursprünglich gegebene kommunale Harmonie (Gemeinwohl) wiederhergestellt. »Versöhnung« [16] schrumpft hier zur »Integration« ins vorgegebene System, gerät zur curativen Sozialtherapie an den Benachteiligten, um ihnen die gesellschaftlich zugelassenen Formen stabilen Verhaltens hilfreich mitzuteilen. Bestehende Macht-Verhältnisse werden nicht tangiert; vielmehr sollen die Repräsentanten kommunaler Herrschaft durch die community Organisation ihrer Opfer koordiniert werden zur höheren Synthese eines interessen-transzendenten Gemeinwohls. Die Unterordnung unter ein so entpolitisiertes Gemeinwohl bedeute für einzelne Gruppen Benachteiligter gerade die Unterdrückung ihrer Bedürfnisse und Rechtsansprüche? Ross dazu in schlichter Systemgläubigkeit: »Gemeinwesenarbeit ist keine Minderheitenbewegung und kann nicht von den Bedürfnissen und Beanstandungen ausgehen, die nur einer kleinen Gruppe im Gemeinwesen wichtig sind.« [17] Auch Niklas Luhmann vertritt - entsprechend der Strukturanalogie zwischen integrationistischer Sozialarbeit und funktionalistischer Systemtheorie die gleiche gouvernementalistische Disziplinierungsparole: Die »Organisationen sozialer Hilfe... arbeiten an der Beseitigung von Problemfällen, die sich aus der Verwirklichung der vorherrschenden Strukturen und Verteilungsmuster immer neu ergeben. Es ist nicht ihre Sache und überhaupt nicht Sache von Hilfe, sich eine Änderung der Strukturen zu überlegen, die konkrete Formender Hilfsbedürftigkeit erzeugen.« [18]
  2. Selbstorganisation, Emanzipation:
    Die radikaldemokratische Gemeinwesenarbeit (Alinsky, Iben, Specht): Sie geht aus von der Erfahrung, dass die Organisationen sozialer Arbeit im Verteilungskampf um die knapper werdenden öffentlichen Ressourcen immer weiter zurückfallen, es sei denn,: die Betroffenen selber schließen sich zusammen zur Wahrung ihrer Interessen. Saul Alinsky (Chicago) und Danilo Dolci (Sizilien) haben durch die Organisation lokaler Interessenverbände der Benachteiligten dieses Konzept nondirektiver sozialer Aktion probiert [19]. Ihre Maxime: »Die Leute selbst werden die Probleme lösen« (Alinsky), denn Emanzipation kann nicht von oben zugeteilt werden (Iben) [20]. Das bedeutet in praxi ein Infragestellen der Kräfteverhältnisse innerhalb eines Wohnquartiers. »Kampf oder Disruption«, notiert Harry, Specht.[21], »treten ... als Herausforderung gegenüber, existierenden Status-Beziehungen auf.« Und umgekehrt: »Wenn Gemeindeangelegenheiten von der einen oder anderen Konfliktgruppe als Angelegenheiten wahrgenommen werden, die ihre Macht über andere reduziert oder eliminiert, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Ablehnung, Kampf und Disruption als Reaktionen auftauchen.« Disruptive Taktiken sind jedoch für Specht und alle übrigen Vertreter radikaldemokratischer Sozialarbeits-Konzepte nie Selbstzweck, sondern höchstens instrumentell zugelassen, als Gegengewalt-Phase in einem Handlungskontinuum, das »die Kluft letzten Endes überbrücken und nicht vertiefen« soll. Konfliktorientierte Gemeinwesenarbeit bleibt also unzweideutig orientiert am Handlungsziel kommunaler Versöhnung antagonistischer Kräfte [22].
  3. Disruption — Kontestation — gewaltfreie Protest-Pression
    Die aggressive Gemeinwesenarbeit (G. W. Müller, z. T. auch Specht) Sie entscheidet sich aufgrund erkannter Klassenstrukturen im gesellschaftlichen System der BRD für eine »aggressive« Interventionsform. Sie bemüht sich, diejenigen solidarisch zusammenzuschließen, »die unter bestimmten sozialen Bedingungen am fühlbarsten leiden und die deshalb am ehesten für Veränderung zu mobilisieren sind«, unterscheidet sich aber dadurch vom reformpädagogisch integrativen Konzept (A) und vom taktischen Instrumentarium der konfliktorientierten Gemeinwesenarbeit (B), dass »es (das aggressive Konzept, H.-E. B.) mit sozialen und politischen Aktionen nicht wartet, bis die Mehrheit der Bewohner im Einzugsgebiet diese Aktionen als Notwendigkeit im Rahmen ihrer Interessenvertretung selbständig anerkannt hat, so dass seine Aktionen nicht beim Status quo der vorhandenen Kräfte-Verhältnisse stehen bleiben.« [23]
    Dieser Sozialarbeitstyp will also nicht nur die Einstellung der Betroffenen zu den sie bedrückenden Umständen verändern (religiös formuliert: »Gott nimmt uns die Last nicht ab, aber stärkt uns die Schultern«), sondern erstrebt die Veränderung der sozialen Machtstruktur selbst. Die Repräsentanten kommunaler Herrschaft und ökonomischer Macht geraten dabei unter einen öffentlichen Legitimationsdruck, bis es zur Kontrolle und Umverteilung von Macht gekommen ist.

3.Didaktik des Konflikts Prozess-Momente kommunikativer Sozialpraxis

Die neue, offensive Sozialpädagogik beruht auf einigen elementaren Erfahrungen und Einsichten, die ich im folgenden unter versöhnungspolitischem Aspekt systematisieren möchte [24]:

  1. Prinzip: Veränderung ungerecht verteilter gesellschaftlicher Reichtümer
    Gesellschaftliche Konflikte sind in der Regel nicht Konflikte zwischen Gleichen, sondern Herrschaftskonflikte zwischen Ungleichen [25]. Versöhnung kann daher nicht - bei unangetasteter Machthierarchie - nur eine Technik der Schlichtung bedeuten, muss anderes sein als der feierliche Handschlag derer da oben mit denen da unten, hinterm sorgsam zugehängten Eisengefüge der Ungleichheit. Versöhnung will dimensional mehr auch als die moralische »Partnerschaft« oder den sogenannten Ausgleich zwischen Individuen und Institutionen. Und schon gar nicht ist sie eine bloß ideelle »Integration« ins gegebene politische System oberhalb der Machtstrukturen [26], geschweige denn ein schrittweiser »Interessenausgleich« auf dem luftigen Boden hoher Gesinnungsethik. Versöhnung schließt unter den gegebenen Macht-Strukturen vielmehr eine reale Umverteilung dieser Macht ein.
    Sie bedeutet für jeden die volle Teilhabe (Partizipation) an den materiellen und immateriellen Reichtümern der Gesellschaft. Sie zielt folglich auf Aufhebung nicht nur der Rassen-Gegensätze, sondern ebenso auch der Klassengegensätze. Ein Anti-Rassismus-Engagement im Bereich unseres eigenen politischen Systems müsste also, will es die kausalen Konfliktstrukturen selbst treffen und nicht deren Symptome nur, konsequenterweise einmünden in ein Anti-Kapitalismus-Engagement [27].
  2. Prinzip: Konfliktorientierung
    Unbewältigte und unthematisierte Konflikte schüchtern ein und erregen Angst. Sie können die rationalen und affektiven Kräfte der Betroffenen so stark lähmen, dass die Verängstigten lern- und damit erneuerungsunfähig werden. Wo Menschen in einem Konflikt lernunfähig geworden sind, gelingt die Wiederherstellung ihrer Selbstachtung und damit ihrer schöpferischen Handlungsfähigkeit (Power) jedoch nur, wenn sie selber den ohnmachtsverursachenden Konflikt nicht länger erleiden, sondern aktiv angehen. Denn Ohnmächtige regenerieren nur in und an eben dem gleichen Konflikt, der sie paralysiert.
  3. Prinzip: Demokratisierung der sozialpolitischen Praxis durch Selbstorganisation der Betroffenen.
    Konsequent praktiziert bedeutet das, die stellvertretende Repräsentation der sozial Ohnmächtigen durch die abstützenden Institutionen (Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Parteien) deutlich zurückzuweisen und allen die Selbstorganisation der Betroffenen zu fördern. Das schließt ein:
  • die entschiedene Kompetenzverlagerung von den installierten Fürsorgeagenturen auf die Betroffenen selbst.
  • die Erlangung der individuellen Konfliktfähigkeit (Selbstvergewisserung, erneuertes Lernbedürfnis, soziale Fantasie, Sensibilisierung für die Ängste anderer, Belastbarkeit etc.).
  • die Erlangung der organisatorischen Konfliktfähigkeit: überregionale Zusammenschlüsse zu Gruppen mit politischer Sanktionsgewalt, die fähig sind, »kollektiv die Leistung zu verweigern bzw. eine systemrelevante Leistungsverweigerung glaubhaft anzustreben.« [28]
  1. Prinzip: Getragen von einer Gruppe.
    Die Unterdrückungsgewalt eines Konflikts, eines Unterdrückers, kann so tiefgreifend sein, dass der Unterdrückte sich nur durch die Unterwerfung halten kann. Die Folgen dieser »Identifikation mit dem Aggressor« (Freire): man sieht sich selbst nun mit den Augen der herrschenden Autoritäten: ohnmächtig, furchtsam, unwissend, inkompetent [29].
    Diese apathische Abwehrstruktur aus Selbsterhaltungsbedürfnis und Ich-Erhaltungstrieb begegnet heute keineswegs nur in den pauperisierten Regionen unterentwickelter Länder. Sie erscheint vielmehr »in epidemischen Ausmaßen« (Horn) gerade in Systemen hoher Komplexität mit schwindenden Partizipationschancen [30], d. h. überall dort, wo der Prozess kollektiver Identitätsvergewisserung nur mehr unter Bedingungen instrumenteller Vernunft zugelassen wird und der Einzelne infolgedessen die ganze Last der Selbstvergewisserung und damit der Lern- und Erneuerungsleistung zugeschoben bekommt.
    Hier begegnet ein Phänomen gesellschaftlich vermittelter Ich-Einschränkung. Zu deren Diagnose reichen deshalb die Methoden bloß individueller Psychopathologie ebensowenig aus wie zu deren politisch-praktischer Therapie: Der Einzelne kann seine soziale Ohnmacht nur im Verein mit anderen, getragen von einer Gruppe, aufheben.
    Konfliktorientierte Versöhnungspraxis im sozialen Feld kann aber nicht, nach dem Muster gruppendynamischer Therapie versuchen, die durch Konflikt-Anpassung und -Unterwerfung erlittenen Beschädigungen im einzelnen selbst zu korrigieren, sei es durch Bewusstmachen der Konfliktursachen, sei es durch gruppenpädagogische Trainings, die den in Konflikten Eingeschüchterten in sich selbst umwandeln zum angstfreien Wesen [31]. Solcher methodischen Loslösung einer Konflikt-Didaktik vom sozialpolitischen Gesamtzusammenhang wird man entgegenhalten: Eine wahrhaft menschenfreundliche Didaktik des Konflikts kommt nicht im gesonderten Individuum selbst zum Ziel, sondern nur durch Abschaffung auch der externen, konfliktverursachenden Bedingungen, also letztlich nur im aktiven Zusammenhang mit dem Abbau der antagonistischen und dem Aufbau einer kommunikativen Gesellschaft [32].

4. Konflikt, Konflikt — und die Versöhnung den Spatzen und den Schwachen?

Eine forcierte Dramatisierung der ohnmachtsverursachenden Konflikte erscheint in einigen Zweigen gerade der Stadtteilarbeit heute so pressant, dass kommunalpolitische Versöhnung als mögliches Operationsziel fast verschwindet. Droht hier das strategische Mittel »Konfliktaktivierung« den politischen Zweck »Versöhnung« zu verschlucken? Setzt man der polizeibegleiteten Konfliktregulierung von oben blinde Protestgewalt von unten entgegen? Wird Versöhnung schon belächelt als Naivität der Schwachen? Gerade im kommunalen Feld kann es schnell - von oben wie von unten - zu einer zielvergessenen Konflikttotalisierung kommen.
Die Folgen sind bekannt: Auf Sicherheitsbedürfnis und Unkenntnis des Bürgers spekulierend, werden grundgesetzlich geschützte Demonstrationen, Boykotts und andere Formen gewaltfreier Konfliktaustragung und Gemeinwesenarbeit mit kriminellen Krawallen auf eine Ebene gerückt. Dann ist es nicht mehr weit bis zur pauschalen Forderung, »eine eingeschränkte Handhabung des geltenden Demonstrationsrechtes« sei nötig. Die obligate Beteuerung des politischen Kommentators, dies sei »kein Aufruf an die Organe des Staates, Schluss zu machen mit der rechtsstaatlichen Zimperlichkeit, wohl aber ein Appell, die rechtsstaatlichen Mittel voll auszuschöpfen« [33], verstärkt die Irreführung aufs peinlichste. »Rechtsstaatliche Methoden voll auszuschöpfen«? Nun, das gerade tun - am unteren Rand bestehender Legalität - Bodenspekulanten und kapitalistische Bauunternehmer, verbunden mit Mietwucher gegenüber sozial Schwachen im Frankfurter Westend - um dieses Beispiel handelt es sich - und der Staat ist verpflichtet, unsoziale Praxis dieser Art polizeilich zu schützen (Exmittierung Sanierungsbetroffener, polizeiliche Räumung besetzter Leerhäuser etc.). Vom »Missbrauch der Freiheit« (Theo Sommer) durch Frankfurter Anarchisten und Gewalttäter sprechen, ohne solche Einzel-Ursachen der Auseinandersetzung, ohne die verzögerte Bodenrechtsreform auch nur anzudeuten, läuft hinaus auf die von der Friedensforschung unablässig kritisierte

  1. Reduzierung strukturell-ökonomischer Gewalt auf physisch personale, sowie auf Missverständnisse von oben, Differenzierungen von unten
  2. eine Tabuisierung der versöhnungspolitischen Aufgaben, die gesellschaftlichen Reichtümer demokratisch zu kontrollieren und zu distributieren (s. o. Kap.11. 3). Solchen Missverständnissen gegenüber müssen die folgenden konfliktdidaktischen und sozialethischen Differenzierungen in Erinnerung gehalten werden:
  •  
    • Impuls der Empörung
      »Zahlentabellen instruieren das Publikum, ohne seinen Affekt zu erregen.« (Marx, 1842)
      Konfliktorientierte Versöhnungsarbeit macht zuerst die jeweilige Unterdrückung zum Gegenstand des Aufbegehrens. Sollen möglichst alle Konfliktbetroffenen beteiligt sein, müssen die Gründe der Unterdrückung aber so überzeugend offengelegt werden, dass sie den Impuls der Empörung und des gerechten Zorns erzeugen. Die ideologiekritische, Daten vermittelnde Information über die jeweiligen makrostrukturellen Konfliktursachen ist demgegenüber keineswegs die höhere Form des Protests, sondern eher eine soziolinguistisch wie affektiv limitiertere. Soziolinguistisch, weil der Übergang der »wilden« Empörung zur kühlen kognitiven Einsicht erfahrungsgemäß auch den Übergang von demokratischer Aktionsbeteiligung aller Schichten zu expertokratischer Bevormundung der Protestierenden durch Mittelschicht-Gebildete bedeutet. Affektiv, weil der expressiven Beteiligung die größere Person-Intensität entspricht [34]. Und - wo keine emotionale Beteiligung, keine Affizierung durch den Konflikt, da auch kein Lernen am Konflikt.
      Muss man dann aber die diffus Empörten nicht doch durch die Eiswüste der Statistiken, Tabellen und Abstrakta hindurchzwingen, um sie nach der affektiven nun auch mit rationaler Handlungsbereitschaft zu erfüllen?
      Informationslernen von oben würde dann unweigerlich wieder vorherrschend gegenüber bedürfnisorientiertem Konfliktlernen von unten. Die deduktive Instruktion der Experten prävalierte, — ohne dass man es will, natürlich - gegenüber induktiver Verarbeitung des selbsterlebten Konflikts auf Seiten der Beteiligten selbst. Jedenfalls: Die Erwartung vieler Lehrer, Gemeinde- und Sozialarbeiter, je lückenloser die kritische Information über Abhängigkeiten und tatsächliche Konflikttiefe geboten wird, desto stärker sei bei den Betroffenen die Motivation dawiderzuhandeln, verkennt die Intensität der Demütigungs- und Ohnmachtserfahrung, die erst einmal in »wilder« Anklage und eruptiver Empörung sich ungezügelt Ausdruck verschaffen muss, bevor es zur Disposition für kritische Rationalität kommen kann.
      Fazit: Die Emotionalität dieser ersten Protest-Phasen ist nicht undiskursiv blind, sondern ein Intensitätsmodus demokratischer Beteiligung Aller [35].
    • Blinder Hass — gerechter Zorn
      Differenzierungen gröbster Art zumindest sind sofort angebracht, denn jene Emotionalität des Protestes kann entweder eine »Empörung aus Menschenwürde, aus aufrechtem Gang« [36] sein oder ohnmachtsbedingter, blinder Hass. Sie kann in sozialer Fantasie für sich und andere produktiv werden oder, wenn »dem isolierten machtlosen Individuum ... die Verwirklichung seiner Sinnes-, Gefühls- und Verstandsmöglichkeiten vereitelt« ist [37], in Zerstörungswut umschlagen. Hass verfolgt Menschen, sie als allein Schuldige wähnend. Zorn sucht nach strukturellen Gründen der Unterdrückung. Zorn allein wäre auch fähig, das Unrecht empört mit zu erleiden, das anderen zugefügt wird.
      Die Emotionalität des Protestes ist also nicht eo ipso schon offen, kann wohl kaum zusammengezogen werden zum Zwitter »kreativer Hass« [38].
    • Die ärgerliche Egoität der Interessen
      Sozialer Druck Unterprivilegierter, seit langem aufgestaut, entlädt sich oft mit polarisierender Wucht und führt zur Konfrontation mit der politischen Administration und familialer oder institutioneller Herrschaftsgewalt. Polarisierungen dieser Art überraschen heute aber keine Ordnungsgewalt mehr, bietet doch das hydraulische Triebmodell von Druck und Entladung ein nur zu willkommenes [39] Erklärungsmodell für Notwendigkeit und Kanalisierbarkeit solcher Konfliktdramatisierungen durch Bürgerinitiativen. Was aber Schrecken und Unverständnis gerade bei wohlwollend Liberalen auslöst, ist die unübersehbare Egoität der Bedürfnisartikulation bei zahllosen Gruppenaktivitäten. Was öffentliches Interesse aller sein könnte, wird - klagt man - als partikuläres Gruppeninteresse durchgesetzt. Muss dann nicht, um Dauermotivation und Geschlossenheit der Gruppe zu sichern, der Konfliktgegner zum Feind stilisiert werden? Wie soll, die erfolgte Eskalation einmal vorausgesetzt, der Widerspruch relativiert werden? Wer soll als erster die Konfliktsynthese anbieten? Sollen am Ende auch der Glaube und das Christentum nach diesem. Schema der Selbstdurchsetzung von Interessen >politisiert< werden?«, fragt Traugott Koch und antwortet: »Diese Aktualisierung dürfte sie zugleich liquidieren.« [40]

Dass sozial Ohnmächtige erst dazu befreit werden müssen, ihre eigenen Interessen, Wünsche und Hoffnungen »für sich« zu erkennen, bevor sie ihre Bedürfnisse Teil neuer, besserer Lebensbedingungen »für andere« vertreten können - eine Variation auf das Thema »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« - wird verständnislos kritisiert. Aufgeklärte Sozialerfahrung wusste jedoch immer schon, »dass die Enteigneten und Entrechteten erst ein Gefühl der Macht erlangen müssen, bevor man von ihnen erwarten kann, dass sie aktiv am Prozess gemeinsamer Entscheidungen teilnehmen können.«[41] Gleichwohl, die Frage nach den Bedingungen kommunikativer Existenz bleibt: wodurch gelingt - nach dem eruptiven, ersten Artikulieren eigener Bedürfnisse (Phase 1) - ein Transzendieren notwendiger Egoität eben dieser Bedürfnisse (Phase II)?
Entscheidend in unserem Zusammenhang ist zunächst nur, das Eigenrecht jener ersten Emanzipationsschritte mit ihrer phasenbedingten Egoität als legitime Partikularität zu sehen. Mit anderen Worten, das emanzipative Ziel »Versöhnung« kann nicht in jeder Phase eines Befreiungsprozesses in gleicher Präsenz durchscheinen.


III. Gewaltfreiheit und konfliktorientierte Sozialpraxis

I. Aufhebung des Gewaltzirkels — messianischer Endzustand

Dass jeder Schuh, der in Gedröhn einhergeht und der Mantel, der in Blut geschleift war, verbrannt wird, ist eine der ältesten und zugleich unmissverständlichsten Versöhnungshoffnungen der Menschheit. Dass die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Spieße zu Sicheln machen und dass sie »hinfort nicht mehr kriegen lernen« (Jesaja 2,4), umreißt einen messianischen Endzustand von Versöhnung. Durchbrechung des Gewaltzirkels überhaupt ist also das Ziel. Die Einrechnung von Gewalt als Mittel zur Herstellung dieses emanzipativen Endzwecks der Geschichte widerspräche also schon der Unteilbarkeit jener Versöhnung. Denn für den Einzelnen, der, unschuldig womöglich, ein Opfer solch instrumenteller Befreiungsgewalt wird, bedeutete das nichts geringeres, als seine Leiden als notwendigen Beitrag zur Erneuerung des Ganzen zu akzeptieren. Er bliebe auf der »Schlachtbank der Geschichte« (Hegel), [42], während aus seinem Unglück das politische Glück der Allgemeinheit resultiert. Eine so zustande gebrachte Versöhnung wäre in der Tat eine erpresste Versöhnung. Es ist, nach allem, was geschehen ist, prinzipiell keine politische Theorie mehr akzeptabel, »die die potentiellen Opfer im vorhinein einer weltgeschichtlichen Mission versichert« (Habermas) und damit abstrakt das Leiden von Menschen verfügt.
Der Widerspruch von emanzipativem Ziel und regressiver Gewaltanwendung - einer Gewalt nicht gegen Sachen, sondern gegen Menschen - ist deshalb von politischen Humanisten wie pazifistischen Christen schon früh festgehalten worden. Sie haben gegen den Entschluss, das demokratische Politikziel während der revolutionären Übergangsphase auch mit autoritär-militanten Mitteln gegen Menschen anzustreben, entschieden die unbedingte Übereinstimmung von Ziel und Mittel behauptet.
Belehrt durch die Erfahrungen einer teils bürokratisierten, teils unterdrückten sozialistischen Bewegung insistierte die Kritische Theorie darauf, dass sich in der Art der Kampfführung schon die Zukunft der sozialistischen Revolution entscheidet. »In der Organisation und Gemeinschaft der Kämpfenden . . .«, notiert Horkheimer, »erscheint . . . etwas von der Freiheit und Spontaneität der Zukunft.« [43] Und Herbert Marcuse, Exponent der gleichen Tradition, betont nach wie vor: »Die individuelle Befreiung (Weigerung) muss im besonderen Protest die allgemeine Befreiung vorwegnehmen, und die Bilder und Werte einer künftigen freien Gesellschaft müssen in den persönlichen Beziehungen innerhalb der unfreien Gesellschaft bereits auftreten.« [44] Die Vorwegnahme einer vernünftigen Gesellschaft der Zukunft in der Gegenwart ist in der Kritischen-Theorie-Tradition des Freudmarxismus (Marcuse), vor allem in der studentischen Reformbewegung der jüngsten Vergangenheit festgemacht worden am antiautoritär orientierten anthropologischen Zielbild »Spontaneität« und »Selbst-Verwirklichung«, Die angstvolle .Selbstbezogenheit, der tendenzielle Autismus dieser Orientierung, ihr wiederum vereinzelndes Lustprinzip hat inzwischen eine intensive Suche nach den individuellen und institutionellen Bedingungen einer angstfreieren, wahrhaft kommunikativen alltäglichen Lebenspraxis ausgelöst [45].

2. Gewaltfreiheit — ohnmächtige Friedfertigkeit?

Die Erfüllung eigener Wünsche und Hoffnungen, die Einlösung individueller und gesellschaftlicher Befreiung kann jedoch gänzlich unabhängig vom Ideal solipsistischer Selbstverwirklichung und weitaus politischer als in Akten sensibilisierender Selbststabilisierung erhofft werden. Es sind die friedenspolitisch wirksamen, neuen, religiös; motivierten, pazifistischen Bürgerrechts- und Befreiungsbewegungen, die Selbstbefreiung und gesellschaftliche Versöhnung konsequent und strikt an die Aufhebung des Gewaltzirkels binden. Die von Mahatma Gandhi [46] und Martin Luther King [47] repräsentierten sozialen Handlungstheorien verstehen revolutionäre Befreiung infolgedessen im umfassendsten Sinn

  • als Befreiung des Unterdrückers vom Zwang, mit institutioneller wie physischer Gewalt allein sich behaupten zu müssen,
  • als Befreiung des Opfers, die Mittel dieser Gewalt sich vom Gegner aufzwingen zu lassen.

King übersah bei seiner Kritik gewaltsamer Aktionen keineswegs die psychisch befreiende, den Bann der Ohnmacht brechende Wirkung, wenn Unterdrückte sich zu Notwehr und Gegengewalt entschließen. Wie Frantz Fanon [48] sah auch er in der Protestgewalt der Unterdrückten eine Chance emotionaler Katharsis. Seine Ablehnung instrumenteller Protestgewalt war schließlich nicht so sehr Ausdruck eines unverrückbaren ethischen Rigorismus im Blick auf die pazifistische Option, sondern durchaus situationsethisch begründet, und daher nicht so umstandslos auf unsere Situation übertragbar. Kings Begründungen waren:

  • pragmatisch:
    Hinweis auf die geringen Erfolgschancen von Protestgewalt einer Minderheit gegenüber dem Polizei- und Verwaltungsapparat der Mehrheit in den USA, während die Kolonisierten die Kolonisatoren - Fanons Aspekt - weit überträfen [49].
  • empirisch:
    die rauschhafte Katharsis einer punktuellen Rebellion gegen Unrecht gerät entweder in unkontrollierbaren Hass oder hinterlässt ein Gefühl der Sinnlosig­keit [50].DieAufbegehrendenüberwindendurch Gegengewalt ihre Furcht jedenfalls nicht.
  • psychologisch:
    Der Hass der Gegengewalt muss »die Ängste der weißen Mehrheit verstärken und sie weniger beschämt wegen ihrer Vorurteile gegen die Neger machen.« [51]

Der Gewalt der Unterdrücker lässt sich infolgedessen wirksam, d. h., mit der Aussicht auf deren Lernfähigkeit, nur in gewaltloser Opposition begegnen: »Wenn der Unterdrücker ... sieht, dass der Neger sich weigert zurückzuschlagen, dann wird ihm wie es Unterdrückern immer geht, die eigene Unmenschlichkeit zum Ekel werden.« [52] Die Überzeugung, dass politische Gegner, die rational nicht ansprechbar sind, durch den Anblick kalkulierter Wehrlosigkeit emotional dazu bewegt werden, ihre Einstellung zu ändern, hatte King von Gandhi übernommen [53]. Der Anblick freiwilligen Leidens ruft — so Kings Spekulation —zwar nicht automatisch eine Verhaltensänderung des politischen Gegners hervor, erzeugt aber Scham und das Bewusstsein einer Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild und ihrer Praxis [54]. Entscheidend für Kings Wahl der gewaltfreien Aktion ist schließlich aber, dass diese Form des Pazifizismus

  • die Niederlage des Gegners, also seine Demütigung vermeidet und ihm keine Vernichtung zufügt
  • dem sozial Ohnmächtigen und Entrechteten ein neues Gefühl der Würde gibt.

Wo aber erringt er diese Selbstachtung und Identität? Indem er freiwillig die unverdiente Gewalt des Repressors aushält.
King sah, dass »bewusstes Erleiden ohne zu vergelten« [55] dem Niedergedrückten das Gefühl der Solidarität, Selbstvertrauen und die Überwindung der eigenen Furcht möglich machten. Eben darauf auf die Wiederherstellung dieser kommunikativen Fähigkeit (Power), auch den Gegner vom Zwang seiner Reaktionsmechanismen zu befreien, kommt es an in der gewaltfreien Aktion.

3. Versöhnung als konfliktorientierter Lernprozeß

  1. Der Verzicht auf Gewalt gegen Menschen im kommunalen Bürgerrechtskampf ist also weder masochistische Unterwerfung noch bloß defensive Unterlassungshandlung. Mit dem Festhalten an der Selbstachtung der Selbsterfahrung neugewonnener Ich-Stärke liegt der Akzent vielmehr auf der Erfahrung eigener »Wiedergeburt« und »neuer Schöpfung«. Denn in der gewaltfreien Aktion geschieht ja eine fortwährende Entschlüsselung kreativer Autonomie, die überraschende Befreiung dessen, was im bislang Ohnmächtigen niedergehalten war. Gewaltfreie Aktion - als Didaktik der Befreiung - entspräche daher, theologisch betrachtet, weniger dem unglücklichen Geschichtsbewusstsein einer isolierten Exodus-Theologie, sondern eher einer darüber hinaus gehenden Theologie der befreienden Landnahme, der Einwanderung in das gelobte Land, das man selbst ist. Jedenfalls mit solch neuer errungener Konfliktfähigkeit und mit dem Vertrauen in die Wandelbarkeit, in die Lernfähigkeit aller Konfliktpartner kommt in den Rechtskampf der Ohnmächtigen etwas Neues hinein, das mit der Dürre bloßer Negation nichts zu tun hat.
  2. Gewaltfreiheit bedeutet - die unmittelbare Folge jener Autonomiegewinne - also gerade »nicht einfach Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen«, sondern »Widerstand ohne Gewalt« [56]. »Es gibt eine moralische Verpflichtung, ungerechten Gesetzen den Gehorsam zu verweigern«, schrieb King aus dem Gefängnis in Birmingham [57], wobei »militant, massive nonviolent actions«, also aktive Widerstandshandlungen bis zu massivem Wirtschaftsboykott gemeint sind [58]. Das Methodenarsenal dieser dezidiert konfliktorientierten Sozialtechnik ist seit den Anfängen der Bürgerrechtsbewegung von King und seinen Mitarbeitern umfangreich differenziert worden. Gene Sharps Tabelle von 1973 belegt nicht weniger als 198 verschiedene Methoden gewaltfreier Intervention [59]. Die folgende Tabelle [60] resümiert nur aufs gröbste das bisher akzeptierte und praktizierte Instrumentarium gewaltfreier Aktion.
  • Fazit I:
    Massive Pressionsgewalt von Kirchengemeinden gegen ausbeuterische Firmenketten in Chicago (1960) (»Operation Breadbasket«) bis zum Firmenkonkurs, ökonomischer Boykott schon zu Beginn der Bürgerrechts-Bewegung in Montgomery (1956) - der Verlust der segregationsfreundlichen Geschäftsleute in der Innenstadt wurde nach 3 Monaten Boykott auf ca. 1 Million Dollar beziffert [61] - derartige öffentliche Widerstandstaktiken - ich greife nur einige zeitgeschichtliche Beispiele aus dem eben skizzierten Methodenarsenal heraus - wird man ernsthaft nicht gewaltlos nennen können. Im Gegenteil, es handelt sich um dezidierte Akte der Gewalt, aber - und das ist entscheidend - um Gewalt gegen Sachen, nie jedoch gegen Menschen. Druck dieser Art darf nie verletzen. Dem Gegner als Person soll kein Schaden zugefügt werden, wohl aber seinen Geschäften, sofern sie andere um ihr Recht bringen. Gegengewalt dieser Funktion, die den Unterdrücker von den Instrumenten seiner Gewaltausübung befreit, kann nicht abstrakt nur als pure Antithese zum Versöhnungsziel behauptet werden. Sie ist - im Gegenteil - dialektisch positiv darauf bezogen.
  • Fazit II:
    Im Bann metaphysisch-idealistischer Seinsaussagen haben wir gelernt, Versöhnung maximalistisch als einen absoluten Endzustand zu sehen, nicht jedoch als Prozess. Nur in den kleinen Versöhnungen aber ist die Versöhnung für uns »da«. Und weiter: Wenn das dominante Ziel der Gemeinwesensarbeit - so Harry Specht darin besteht, » ... Gemeinwesen in die Lage zu versetzen, eine Strategie der Schlichtung und des Ausgleichs zu entwickeln, um von der Revolte über den Kampf und die Konkurrenz-Kampagne zur Kooperation vorzustoßen«[62], dann sind die »disruptiven Taktiken« und Konfliktdramatisierungen ein integrales Phasen-Moment versöhnungsorientierter Sozialpraxis, nicht aber dessen abstraktes Gegenteil. Jenes »Kontinuum von Interventionsformen« (Specht, 217) bildet einen Handlungszusammenhang, in dem Protestgewalt nur verschieden stark eingesetzt wird, aber immer operativ bezogen bleibt auf die Versöhnung antagonistischer Kräfte.

Anmerkungen:

  1. Entschlossenheit gegen abschaffbares Leid, das kulturell sozial »produziert« wurde, ist gerade »das globale Organisationsziel sensibilisierter gegenkutureller Gruppen«. Vgl. Ferdinand Menne (Hg.), Neue Sensibilität. Alternative Lebensmöglichkeiten, Reihe Theologie und Politik, Bd. 7, Darmstadt/Neuwied, 1974,S. 52.
  2. »Von allen staatlichen Entscheidungen, die den Ausbruch großer Kriege seit 1910 zur Folge hatten, erwiesen sich etwa drei Fünftel als falsch, und zwar so wohl in der Einschätzung der Fähigkeiten und Intentionen der anderen großen Staaten, Zeitpunkt des Kriegsbeginns als auch in Bezug auf die tatsächliche Folgen bei Kriegsende.« Karl W. Deutsch und Dieter Senghaas, »Die brüchige Vernunft von Staaten«, in: Dieter Senghaas (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt 1971, S. 106.
    Zur Frequenz von Irrtümern und Fehleinschätzungen auf Seiten der angeblich realistisch rational handelnden Räson heutiger Staaten vgl. auch Karl W. Deutsch, Der Stand der Kriegsursachenforschung, DGFK-Hefte, Friedens- und Konfliktforschung Nr. 2, Bonn, 1973.
  3. vgl. beispielsweise Erich Fromm, The Anatomy of Human Destructiveness, New York 1973, bes. S. 185 ff. und S. 435 ff.
  4. vgl. H.-E. Bahr (Hg.), Weltfrieden und Revolution in politischerer und theologischer Perspektive, Frankfurt, 1970 (S. Fischer Taschenbuch 1102), S. 11 ff.
  5. vgl dazu Reimer Gronemeyers Kritik Dahrendorfscher Konfliktsoziologie in diesem Band.
  6. Vgl. Karin Priester, »Über die Schwierigkeiten einer >Erziehung zum Frieden<«, in: Ch. Wulf (Hg.), Kritische Friedenserziehung, Frankfurt, 1973, S. 83.
  7. vgl. beispielsweise R. Lengert, »Modell einer expliziten Theorie des Konflikts«, in: Bildung und Erziehung 25 (1972), H. 5, S. 20 ff.
  8. vgl. Claus Offe, »Lebensqualität - eine neue Friedensformel sozialdemokratischer Innenpolitik?«, in: Leviathan 2 (1974), H. 1, S. 5.
  9. vgl. dazu Jürgen Habermas, »Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Gesellschaft ausbilden? «. in J. Habermass/D. Hendrich, zwei Reden aus Anlaß des Hegel-Preises, Frankfurt, 1974, S. 66 ff.
  10. Vgl. »Lorenzo Milani. Die Militärpfarrer und die Kriegsdienstverweigerer. Ein offener Brief und seine Verteidigung vor Gericht «, in: Stimme der Gemeinde 17/1966, S. 149.
  11. Vgl. Scoula di Barbiana. Die Schülerstudie, Berlin 1972, S. 149.
  12. »Neuverteilung der sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Macht von den Mächtigen auf die Machtlosen« lautet ein Programmbeschluß des Ökumenischen Rates /Canterbury, 1969.
  13. Vgl. zusammenfassend Urs Jaeggi, Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik. Elemente einer gesamtgesellschaftlichen Analyse, Frankfurt, 1973, S. 5.
  14. Hermann Giesecke (Hg.), offensive Sozialpädagogik, Göttingen, 1973, S. 5.
  15. Vgl. A.-S. Seippels Darstellung in diesem Band; im übrigen C. Wolfgang Müller, «Die Rezeption der Gemeinwesenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland», in C.W. Müller/Peter Nimmermann (Hg.), Stadtplanung und Gemeinwesenarbeit, München, 1971, S.228 ff.
  16. Vgl. Murray C. Ross, Gemeinwesenarbeit. Theorie, Prinzipien, Praxis, Freiburg, 1971, 2. Aufl., S. 65 ff.
  17. Vgl. M. C. ross, Gemeinwesenarbeit, a. a. O., S. 143.
  18. Vgl. Niklas Luhmann, »Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen«, in: Hans-Uwe Otto/Siegfried Schneider (Hg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit l, Neuwied, 1973, S. 35.
  19. Vgl. Saul D. Alinsky, Leidenschaft für den Nächsten. Strategien und Methoden der Gemeinwesenarbeit, Geinhausen/Berlin, 1973, S. 63 ff.
  20. Vgl. G. Iben, Rolle der Sozialarbeit in Stadtplanung und Stadtentwicklung, 1972 (Masch.).
  21. Vgl. Harry Specht, »Disruptive Taktiken in der Gemeinwesenarbeit«, in: Müller/Nimmermann (Hg.), Stadtplanung, a. a. O., S. 214 f.
  22. Vgl. vor allem George Brager/Harry Specht, Community Organizing, New York, 1973, S. 335 ff.
  23. Vgl. C. W. Müller, Die Rezeption der Gemeinwesenarbeit, a. a. O. S. 232, 237.
  24. Die Aufreihung ist unvollständig; vgl. im übrigen die Angaben in: H.-E. Bahr (Hg.), Politisierung des Alltags. Gesellschaftliche Bedingungen des Friedens, Neuwied, 1972 (SL 88); vgl. zum folgenden bes. Ernst Lange, »Sprachschule für die Freiheit. Ein Konzept konfliktorientierter Erwachsenenbildung«, in: Ev, Kommentare 1972, H. 4, S. 204 ff.
  25. Ein Konflikt ist nach Johan Galtung, Theorien des Friedens, München, 1970, S. 135, im Unterschied zu Meinungsdifferenzen oder Spannungen auf der Basis eines übergreifenden Konsensus eben ein Streit um verschiedene Ziele, bei welchem es »miteinander unvereinbare Zielvorstellungen gibt«, so daß das Erreichen eines Zieles das Erreichen des anderen im gleichen Systemzusammenhang ausschließt.
  26. Martin Luther King notierte wenige Wochen vor seiner Ermordung: »Integration ist sinnlos ohne Teilhabe an der Macht. Wenn ich von Integration spreche, dann meine ich keine romantische Mischung von Farben, sondern eine wirkliche Aufteilung von Macht und Verantwortung.« M. L. King, Testament der Hoffnung. Letzte Reden, Aufsätze und Predigten, Gütersloh, 1974, S. 25.
  27. Zur kapitalismuskritischen Wendung des späten King vgl. Heinrich Grosses Einleitung zu M. L. King, Testament der Hoffnung, a. a. O., S. 12 ff.
  28. Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: G. Kress/D. Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft, Frankfurt, 1969, S. 169.
  29. Vgl. Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Stuttgart, 1971, S. 37 ff.; ders., »The Adult Literary Process as Cultural Action for Freedom«, in: Harvard Educational Review Vol. 40, No. 2, 1970.
  30. Zur Sozialpsychologie der Integration vgl. Klaus Horns umfassenden Überblick in: K. Horn (Hg.), Gruppendynamik und der »subjektive Faktor<. Repressive Entsublimierung oder politisierende Praxis, Frankfurt, 1972, S. 7-116.
  31. Hier, in der ungenügenden Differenzierung zwischen introspektiven Therapiegruppen und den sozialen Initiativgruppen mit deutlich politischer Außenaktivität liegt ein gewisser Mangel des sonst ungemein aufschlußreichen Bandes: Horst Eberhard Richter, Lernziel Solidarität, Hamburg, 1974, bes. S. 78 ff.
  32. Dem rapiden Anwachsen systembedingter psychosozialer Störungen versuchen besonders die Kirchen mit der verstärkten Einrichtung von Individual- und Gruppentrainings, Beratungszentren etc. und entsprechender Zusatzausbildung (CPT) gerecht zu werden. Es fragt sich aber, ob solche Rücknahme auf diakonische Funktionen (= Kirchengemeinde als therapieorientierte Innenpraxis) nicht die prophetisch-kritische Funktion (= Kirchengemeinde als konfliktorientierte Bürgerinitiative) fatal überlagert.
  33. So Theo Sommer, Vom Mißbrauch der Freiheit. Folgerungen aus den Frankfurter Krawallen, in: DIE ZEIT, 1. März 1974.
  34. Die expressive Sprache der Aufbegehrenden präsentiert nicht technische Informationen; sie repräsentiert die Sprecher. Deren Konflikte, Wünsche und Hoffnungen finden in ihr eine höchst emotionale Expression. Je konfliktgeladener die Situation des Sprechers ist, desto eher kann sie ihn aber auch überwältigen: Sein Sprechen verliert die symbolische Kraft, im Extremfall auch die bloße Mitteilungsfunktion. Gelingt die Symbolsprache aber, engagiert sie die Mitbetroffenen oft so emotional, daß sie leidenschaftlich lernbereit werden. Vgl. zur psychoanalytischen Wertung dieser expressiven Sprachsituationen die Beiträge von J. Laffal, A. Lorenzer und D. Bres, in: Psyche (1970), H. 12. Vgl. im übrigen Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt, 1970. Zu den didaktischen Konsequenzen vgl. auch Fulbert Steffensky, Gott und Mensch - Herr und Knecht? Autoritäre Religion und menschliche Befreiung im Religionsbuch (Konkretionen Bd. 17), Hamburg, 1973, S. 76 ff.
  35. Vgl. dazu die Skala der Betroffenheiten im Zusammenhang schichtspezifischer Erwägungen bei H.-E. Bahr (Hg.), Politisierung des Alltags, a. a. O., S. 231.
  36. gl. Alfred A. Häsler, Leben mit dem Haß, Reinbek, 1969, S. 15.
  37. Vgl. Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt, 19682, S. 179.
  38. Vgl. Dorothee Solle, Gibt es einen kreativen Haß?, in: Bahr (Hg.), Politisierung des Alltags, a. a. O., S. 253 ff.
  39. Vgl. dazu den Beitrag Reimer Gronemeyers m diesem Band.
  40. Vgl. Traugott Koch, »Vorbedingungen des Friedens«, in: RADIUS 1973, H. 2, S. 31.
  41. Lyle E. Schaller, Kirche und Gemeinwesenarbeit. Zwischen Konflikt und Versöhnung, Geinhausen/Berlin, 1972, S. 56.
  42. Zur Hegeischen Fassung der Mittel-Zweck-Beziehung im Gewände der berühmt-berüchtigten »List der Vernunft« vgl. in unserem Zusammenhang Peter Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung bei Hegel und in der Hegeischen Schule, Göttingen, 1971, S. 156 ff.
  43. Vgl. Max Horkheimer, Kritische Theorie, Bd. n, Frankfurt, 1968, S. 166. Vgl. dazu Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt, 1969, S. 9.
  44. Vgl. Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frank­furt, 1973, S.62.
  45. Vgl. die Marcuse-Kritik bei H.-E. Richter, Lernziel Solidarität, a. a. O., S. 69 ff. mit dem Plädoyer für eine neue »Selbstbeherrschung« bei Gerhard Szczesny, Die Disziplinierung der Demokratie oder die vierte Stufe der Freiheit, Reinbek, 1974, S. 157 ff. - Weitaus am instruktivsten aber F. Menne (Hg.), Neue Sensibilität, a. a. O.
  46. Vgl. Erik H. Erikson, Gandhis Wahrheit. Über die Ursprünge der militanten Gewaltlosigkeit, Frankfurt, 1971.
  47. Vgl. die nach wie vor umfassendste Gesamtdarstellung bei Heinrich Grosse, Die Macht der Armen. Martin Luther King und der Kampf für soziale Gerechtigkeit (Konkretionen Bd. 10), Ham­burg, 1971.
  48. Vgl. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt, 1966, S. 72: »Auf der individuellen Ebene wirkt die Gewalt entgiftend. Sie befreit den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex, von seinen kontemplativen und verzweifelten Haltungen. Sie macht ihn furchtlos, rehabilitiert ihn in seinen eigenen Augen.«
  49. Vgl. M. L. King, Wohin führt unser Weg? (Fischer-Bücherei 937), Frankfurt, 1968, S. 52.
  50. Vgl. M. L. King, The Trumpet of Conscience, New York, 1968, S. 15.
  51. Vgl. M. L. King, Wohin . . ., a. a. O., S. 54.
  52. Vgl. M. L. King, Stride Toward Freedom, New York, 1958, S. 193.
  53. Vgl. M. L. King, Stride . . ., a. a. O., S. 85.
  54. Vgl. H. Grosse, Die Macht der Armen, a. a. O., S. 77 ff.
  55. Vgl. M. L. King, Stride . . ., a. a. O., S. 85.
  56. Vgl. M. L. King, Freiheit! Der Aufbruch der Neger Nordamerikas (Heyne Sachbuch Nr. 112), München, 1968, S. 75.
  57. Vgl. M. L. King, Why We Can't Wait, New York, 1964, S. 76 ff.
  58. Vgl. dazu Johannes Degen, Das Problem der Gewalt. Politische Strukturen und theologische Reflexion (Konkretionen Bd. 9), Hamburg, 1970, S. 59 f.
  59. Vgl. Gene Sharp, The Politics of Nonviolent Action, Bd. I—III, Boston, 1973.
  60. Zusammengestellt nach Harry Specht, »Disruptive Taktiken in der Sozialarbeit«, in: Müller/Nimmermann, Stadtplanung und Gemeinwesenarbeit, a. a. O., S. 208 ff. Die Grundtypen möglicher Interventionsformen begegnen in dieser Form seit dem frühen Bürgerrechtshandbuch Martin Oppenheimer/George Lakey, A. Manual for Direct Action, Chicago, 1964, bis zu Piet Reckman, Soziale Aktion. Strategie und Methodik, Stein/Nürnberg, 1973, S. 79 ff.
  61. Vgl. H. Grosse, Die Macht der Armen, a. a. O., S. 131, 54 u. ö.
  62. Vgl. H. Specht, Disruptive Taktiken . . ., a. a. O., S. 215.
  63. Vgl. Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft, Gütersloh, 19732, S. 25.
  64. Vgl. den Report der ökumenischen Konsultation von Cardiff über »Gewalt, Gewaltlosigkeit und der Kampf um soziale Gerechtigkeit« (Sept. 1972), in: Gewaltfreie Aktion 16, 2. Quartal 1973, S. 1-27.
  65. Vgl. Theodor Ebert, Kirche und gewaltfreie Konfliktaustragung. Wie konkret sind kirchliche Denkschriften?, in: Gewaltfreie Aktion 17/18, 4. Quartal 1973, S. 66.

Quelle: Bahr, H.-E./Gronemeyer, R. (1974) Konfliktorientierte Gemeinwesenarbeit. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand. S. 9ff.