Community Work around the World

(Referat auf der Tagung zur Gründung eines Arbeitskreises "Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen" der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit, 30.11.2001, Haus der Parität, Frankfurt/M.)

Inhalt:


An der IASSW/IFSW-Konferenz der internationalen Verbände vom Sommer 2000 in Montreal stellte ich mit Erstaunen fest, wie sehr die Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen weltweit im Vormarsch ist. Da ich selber über 20 Jahre Gemeinwesenarbeit lehrte, fühlte ich mich wieder "zu Hause" und war froh, auf MitstreiterInnen zu treffen. So kam ich mit dem Vorsatz einer Anstosstagung zu einem Arbeitskreis "Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen" nach Hause.
Man warnte mich allerdings vor diesem Vorhaben, indem man darauf hinwies, dass Deutschland ein harter Boden für die Entwicklung von GWA sei. Das Arbeitsfeld sei ausserordentlich heterogen und vor allem durch Abgrenzungsdiskurse zersplittert. Es gehe um unterschiedliche theoretische, politische und methodische Ausrichtungen, aber auch um die Frage von Basis- und Grassrootorientierung versus Sozialplanung und -management. Oft würden zudem die grossen konfessionellen und weltlichen Verbände lokale Initiativen lähmen, die nicht auf ihre territorialen Absprachen Rücksicht nehmen. Solche Warnungen bewirken bei mir in der Regel eine Gegenbewegung, nämlich das Interesse, herauszufinden, ob dem wirklich so ist und ob diese Lähmung durchbrochen werden kann. Wäre es nicht an der Zeit, angesichts der aktuell dominierenden Schwerpunkte wie "Casemanagement", "Clinical Social Work" und "Qualitätsmanagement" daran zu erinnern, dass Soziale Arbeit seit Anbeginn auch auf der Ebene des sozialräumlichen und funktionalen Gemeinwesens präsent war, ist und sein sollte?
In diesem Vorhaben bestärkt wurde ich noch durch das Werk von Hubert Campfens (Hrsg): Community Development around the World: Practice, Theory, Research, Training, University of Toronto Press, Toronto, 1997, das meinen weiteren Ausführungen zugrunde liegt. Auch dieses belegt eindrücklich ein wachsendes Interesse an GWA in vielen Teilen der Welt. Der Autor hat sechs Teams in sechs Ländern - Kanada, Holland, Israel, Ghana, Bangladesh, Chile - gebeten, den Stand der Gemeinwesenarbeit zu dokumentieren. Dabei schlug er den Teams folgende Vergleichsdimensionen vor (S. 8):

  • Drei oder vier Beispiele aktueller Praxis;
  • Beschreibung der Organisationen und Programme, die GWA in der einen oder anderen Form fördern;
  • Diskussion der Themen im Zusammenhang mit Bildungsinhalten und der Ausbildung für die Praxis;
  • Diskussion der Entwicklungen im Forschungsbereich;
  • Diskussion der Entwicklungen im Theoriebereich.

Entstanden ist ein interessantes, umfangreiches Überblickswerk, das beispielsweise zeigt, dass GWA je nach Land auf höchst unterschiedliche Fragestellungen eingehen muss (S. 3f.):

  • In Bangladesh, eine traditionelle Agrargesellschaft, verankert im Islam, lautet die Frage: Wie bewältigt man eine stark wachsende Bevölkerung, welche das, was das Ökosystem zu leisten vermag, zu sprengen droht?
  • In Israel geht es um die Frage, wie grosse Zuwanderergruppen in einen modernen (Krieg führenden) Staat integriert werden können, die aus vielen Nationen mit höchst unterschiedlichem soziokulturellem Hintergrund stammen und wie eine ethnisch, religiös, sozial und politisch gespaltene Gesellschaft zusammengehalten werden kann.
  • In Holland sehen viele den Zerfall von familiären sowie spontanen nachbarschaftlichen Austausch- und Hilfsformen zugunsten eines grenzenlosen Individualismus und Konsumismus. (3)
  • Und was in Ghana - im Land mit der längsten Tradition regierungsunterstützter GWA - "soziale Entwicklung" heisst, nennt sich in Lateinamerika "social promotion" oder "popular education", Befreiungstheologie oder teilnehmende Aktionsforschung ("participatory action research"). (S. 7)


Neue GWA-Akteure und Akteurinnen

Dabei zeichnet das Buch eine interessante Entwicklung nach: In den 50er und 60er Jahren wurde GWA durch Regierungen und die UNO gefördert. Sie war Teil der Unabhängigkeits- und Dekolonisierungsbestrebungen in Afrika und Asien. Sie sollte auch die sogenannt "rückständigen" Agrarsektoren der entwickelten Gesellschaften modernisieren. Und als Feldzug gegen die Armut und zur Integration von Randgruppen wurde sie in den 60er Jahren auch von Regierungen des reichen Nordens gefördert. (S. 4)
Inzwischen haben sich die Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft aufgrund einer neuen, weltweiten Kultur des Neoliberalismus und damit einhergehenden wirtschaftlichen Globalisierungsprozessen geändert. Es traten neue GWA-AkteurInnen mit neuen GWA-Ansätzen auf den Plan, die dem Begriff "Gemeinwesen" teilweise auch neue Inhalte geben.
Als erstes sind die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder Freiwilligen-Organisationen zu nennen, die von Korten (1987, 1990) wie folgt charakterisiert werden:

  • Es sind erstens im Süden Tausende NGOs, die wiederum mit Tausenden von internationalen NGOs im OECD-Raum bzw. im Norden verknüpft sind.
  • Aber auch im Norden entstanden aufgrund des Rückzugs des Sozialstaates neue NGOs oder NGOs der zweiten Generation. Die letzteren haben sich von einem Wohlfahrtsmodell losgelöst und verfolgen Modelle sozialer Entwicklung bzw. sozialen Wandels.
  • Es gibt aber auch NGOs der dritten Generation, die eine "Mehrebenenstrategie" verfolgen, indem sie bewusst Koalitionen auf der regionalen und nationalen Ebene aufbauen, um sozialen Wandel auf der lokalen Ebene zu ermöglichen oder auch zu erzwingen. Bestimmte Gruppen betreiben bewusstseinsbildende Öffentlichkeitsarbeit ("education of the public") oder handeln anwaltschaftlich im Interesse bestimmter Gruppen.
  • Eine vierte Generation von NGOs verbündet sich mit sozialen Bewegungen (z.B. der Umweltbewegung, Agenda 21, der Menschenrechts- und Frauenbewegung), und zwar mit dem Ziel, die wirtschaftszentrierte Entwicklung (Globalisierung) durch eine menschenzentrierte Entwicklungsvision abzulösen. (S. 4)

Ein anderer Trend der letzten Jahre ist die spektakuläre Entwicklung von Genossenschaftsbewegungen, von denen viele als GWA-Akteure betrachtet werden können. Zahlenmässig am meisten ins Gewicht fallen die Myriaden von meist spontanen, selbstgesteuerten lokalen ländlichen und städtischen Organisationen, die versuchen, das Überleben ihrer Mitglieder aufgrund von genossenschaftlicher Produktion, Verteilung und Konsum sicherzustellen. Develtere (1994) nennt sie "defensive soziale Bewegungen", die aber gleichzeitig versuchen, die ideologische ökonomische Agenda der globalisierten Wirtschaft wie der Zivilgesellschaft sowie ihre Produktionsweisen und Ressourcenallokation zu verändern. Es geht ihnen um Alternativen zu staatlich kontrollierten Programmen, zu kapitalistischen, gewinnorientierten Produktionsweisen, zentralistischen Entscheidungsstrukturen. Und diese heissen Bedürfnis- bzw. Bedarfsorientierung, Gemeinwesen-, Umweltbezug und Produktionsweisen, welche die Ressourcen künftiger Generationen zu sichern vermögen. Dies soll durch die Kombination von wirtschaftlichen und sozialen Zielen erreicht werden (vgl. die wachsende "community economic development" (CED) Bewegung in Kanada, den USA und in Westeuropa). Sie sind ein Gegenmodell zum individualisierten, wettbewerbsorientierten Produktions- und Unternehmensmodell der westlichen Nationen. (S. 5)
Eine weitere Gruppe von neuen GWA-AkteurInnen verfolgen wiederum politische Ziele, so u.a. community empowerment oder die Demokratisierung der Entwicklungsorganisationen. (S. 6).
Viele dieser Gruppen haben ihre ideellen und intellektuellen Wurzeln noch in früheren sozialen Bewegungen oder GWA-Traditionen. In vielen Fällen stehen sie auch im offenen Konflikt über Visionen, Ziele und Vorgehen mit den älteren GWA-Organisationen oder mit der Regierung ihres Staates, vor allem wenn sie dessen neoliberalen Kurs kritisieren. Es zeigt sich aber auch, dass diejenigen GWA-AkteurInnen, die das Überleben ihrer Mitglieder sichern müssen, eher die Kooperation mit Wirtschaft und Regierung suchen. Dies hat zu einer Diskussion geführt, die fordert, dass die Gründung von genossenschaftlichen Unternehmen mit einer Bildungsstrategie einhergehen sollte, die das Bewusstsein für die erzwungene Solidarität als Folge von Unterdrückung und Ausbeutung schärft. Dadurch wird auch der Romantisierung dieser Selbsthilfegruppen Einhalt geboten. (S. 6).


Acht Zugänge zur Sozialen Arbeit in und mit Gemeinwesen

Aufgrund von Campfens Bericht und Analyse ergeben sich zur Zeit folgende Ansatzpunkte für die Arbeit in und mit Gemeinwesen (S. 455-456):

  • Das Kontinuumkonzept mit dem Ziel, menschliche Entwicklung über Gruppen, Gemeinwesen und internationale Entwicklung - miteingeschlossen Menschenrechtsarbeit zu fördern.
  • Das Kooperativenkonzept, mit dem Ziel individueller, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung in der Tradition gegenseitiger Hilfe, sozialer Unterstützung und sozialer Aktion.
  • Das territorial gebundene Lokalkonzept, welche das lokale Gemeinwesen als eine eigenständige ökologische, ökonomische, soziale und politische Einheit betrachtet; Ziel ist hier Lebensqualität und optimales Engagement wie Partizipation von Individuen und Organisationsmitgliedern in Bezug auf die Angelegenheiten des Gemeinwesens.
  • Das strukturell-funktionale Konzept, bei welchem GWA Teil einer umfassenderen Policy/Sozialpolitik ist, die sich auf verschiedene, vornehmlich organisationelle Partner stützt, d.h. Staat, NGOs, Wirtschaft, private Organisationen und das Gemeinwesen selber als Nutzniesserin betrachtet.
  • Das kategoriale Konzept, in welchem GWA Teil einer umfassenderen Sozialpolitik ist, die soziale Probleme (z.B. Armut) lindern oder verhindern soll, die bestimmte soziale Kategorien oder Gruppen betreffen, die von den Ressourcen, Chancen und Wohltaten einer Gesellschaft ausgeschlossen wurden.
  • Das Selbstmanagement-Konzept, das als Ermächtigungskonzept für Gruppen und Gemeinwesen verstanden wird.
  • Das Konzept des sozialen Lernens, das Experten mit ihrem universalistischen Wissen und BürgerInnen mit ihrem lokalen Wissen und ihren Erfahrungen zusammenbringt.
  • Das Intergruppen- oder Vernetzungskonzept, das gegenseitiges Verstehen und Konfliktlösung (sowie soziale Integration) von sozial und kulturell unterschiedlichen Gruppen zum Ziel hat.

Diese sehr unterschiedlichen Zugänge zeigen, dass sich die neuere Gemeinwesenarbeit nicht mehr nur auf der lokalen Mikro-Ebene bewegt, sondern auch auf der Meso-Ebene (grösseres Gemeinwesen, Organisationen) und der nationalen wie internationalen Makro-Ebene präsent ist. Dabei können, ja sollten sich die verschiedenen Zugänge ergänzen. (S. 456)
Überdies gewinnen die Themen der sozio-ökonomischen (Menschen)Rechte weltweit zunehmend an Beachtung durch MenschenrechtsaktivistInnen wie durch GW-ArbeiterInnen in den Ländern des Nordens, da immer mehr Menschen ökonomisch, politisch und sozial ausgeschlossen sind - dies als Resultat des sozialen Abbaus von sozialstaatlichen Leistungen sowie als Folge der sich verhärtenden Positionen der Öffentlichkeit gegenüber SozialhilfeempfängerInnen, Flüchtlingen, ImmigrantInnen u.a. (S. 465)


Handlungstheoretische Traditionen der Gemeinwesenarbeit

Ist GWA ein Auslaufmodell, fragt Campfen und antwortet mit: Ganz entschieden Nein! Weder das Gemeinwesen noch die Vorstellung von Gemeinwesenentwicklung verschwand, obwohl etliche GWA-Programme nicht immer erfolgreich waren. Aus diesem Grund hat GWA immer wieder neue Formen und Schwerpunkte angenommen. Und diejenigen, die schon lange in der GWA tätig sind, wissen nur allzu gut, dass Gemeinwesenprozesse mit sehr viel Frustration verbunden sein können und nie sicher mit Erfolg gerechnet werden kann. Sie wissen aber auch, dass GWA herausfordernd, befreiend, ermächtigend und begeisternd sein kann. (S. 25)
Um die unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen GWA-Formen zu verstehen, muss man auf ihre ideellen und theoretischen Traditionen zurückgreifen, die bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurückgehen. Campfen nennt folgende (handlungs)theoretische Traditionen der GWA (S. 25-40):

1. Gesellschaftliche Steuerung: Social Policy Analyse und kommunale Sozialplanung

Dieser Zugang geht zurück auf Henri de Saint Simon und August Comte (Mitte 19. Jahrhundert), ferner die Theorie der ökonomischen Entwicklung von Rostow. Dabei wird gefordert, dass Sozialwissenschafter ihr Wissen in den Dienst der Menschheit stellen müssen. Ausgangspunkt sind Policy-Analysen und soziale Technologien als wissenschaftsbasierte Interventionsformen, die im Rahmen eines mehr oder weniger partizipativen Top-Down-Modells umgesetzt werden.
Hauptproblem ist hier oft die Unwirksamkeit von staatlichen Programmen, die man mit GWA und Methoden der Erwachsenenbildung sowie Gruppenarbeit wirksamer zu gestalten hofft. Machtstrukturen werden im Rahmen dieses Ansatzes in der Regel nicht in Frage gestellt. Hier bestimmt der Staat die Randbedingungen, d.h. die realen Chancen und Grenzen eines GWA-Programms. Stösst die Arbeit an staatsbezogene Grenzen, so stellt sich die Frage nach einem anderen Einstieg, sei es über soziale Mobilisierung oder soziales Lernen.

2. Soziale Reform - Soziale Mobilisierung

Es geht hier um Ansätze, welche die durch den Staat gesetzten Grenzen überschreiten sollen. Dazu kommen Themen, Soziale Probleme (social issues), die vom Staat nie aufgegriffen wurden oder aufgrund der politischen Machtverhältnisse unterdrückt oder (re)privatisiert wurden.

2.1 Konfrontationspolitik

Sie greift zurück auf marxistische und neo-marxistische Analysen - wobei es hier vor allem um soziale Gerechtigkeit und neue Formen der Demokratie geht. Hierher gehört z.B. der Feldzug gegen die Armut in den USA, die Sozialhilfeempfängerbewegung, aber auch die Organisierung der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen, u.a. durch Alinsky (1946, 1971).

2.2 Utopismus und selbstgewählter gesellschaftlicher Ausstieg (Disengagement)

Robert Owen (1982) - basierend auf der Utopie, dass Kapital und Arbeit in einem harmonischen Gemeinwesen zusammengehen könnten; stand der Kibbutzidee Pate und inspirierte die Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung.

2.3 Freiwillige Zusammenschlüsse - Gegenseitige Hilfe - Kommunitarismus

Geht auf Proudhon und Kropotkin zurück.
Proudhon: erhofft sich u.a. eine Wiederbelebung lokaler Traditionen und fairer Austauschbeziehungen; dazu kommt die Vorstellung eines minimalen Staates und mithin die Forderung nach vollständiger Autonomie einer jeden Person.
Kropotkin: er begründet seine Lehre der gegenseitigen Hilfe durch eine Rückschau in die Evolution - kritisiert den Individualismus wie den staatlich verordneten Kollektivismus.
Etzionis
Kommunitarismus ist als Reaktion auf den Individualismus, den Zerfall der Gemeinwesen, die Inflation und Dominanz individueller Rechte über die Rechte des Gemeinwesens, das Ungleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten und das ungehinderte Verfolgen individueller Interessen zu verstehen.

3. Soziales Lernen

Hier geht es um eine Form von Gemeinwesenentwicklung, welche das Hauptgewicht auf erfahrungsgesättigtes Theorie-Praxis-Lernen in Gruppen und Gemeinwesen legt. Sie versteht sich als Alternative zum Top-down-Modell der SozialplanerInnen. (S. 33ff.) Was muss aber im Rahmen eines Aktivierungsprozesses gelernt werden: Realwissenschaftliche Theorien, die helfen, die Welt zu verstehen als Theorie der Geschichte wie des sozio-kulturellen Kontextes, in welchem GWA sowie die Lernenden aktiv werden; die Werte und Normen, welche die Rollen, Handlungen und politischen Strategien inspirieren sollen; Taktiken, die Blockierungen und Widerstände seitens der Machtträger überwinden sollen.

3.1 Amerikanischer Empirismus und demokratisches Expertentum - Deweys "Learning by Doing"

Deweys Vorstellung zielt auf die Aufhebung des Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis durch Erfahrung. Dazu braucht es aber auch den wissenschaftlichen Experten. Dewey war zudem ein Demokratie-Theoretiker, wobei ihm zufolge Demokratie nicht nur das Mermal eines politischen Systems, sondern ein "way of life" war und in der Nachbarschaft zu beginnen hatte und zugleich nach Universalität streben sollte.
Diese Idee wurde dann durch die Vorstellung von "partizipativer Forschung" erweitert (Lateinamerika, Fals-Borda 1986, 1991; vgl. auch Sarri & Sarri 1992).

3.2 Gruppendynamik und Kurt Lewins Aktionsforschung

Inspiriert von Dewey entwickelte Lewin seine Form von Aktionsforschung. Hier wird der Experte zum "change agent", d.h. zum Befähiger oder Trainer mit dem Ziel der Neustruktuierung der Beziehung zwischen Individuum und sozialer Umwelt. Lewin zufolge konnte dies am besten in Kleingruppen erfolgen, da dies der alltägliche Lebenskontext von Menschen reproduziere; hier konnte man Lernender und Akteurin sein.

3.3 Bedürfnisorientierte GWA-Analyse auf dem Grassroot-Level - Murray Ross (1950) - Toronto School of Social Work.

Hier lernt ein Gemeinwesen, wie es mit dem Instrument einer "Intergruppe", welche die verschiedensten Interessengruppen repräsentiert, seine Ziele wirksam erreicht.

3.4 Organisationsentwicklung (OE) und GWA

OE war zunächst Ergebnis der Forschung in Gruppendynamik, soweit sie den sozialen Kontext mitberücksichtigte; dabei entstand eine neue Sozialtechnologie, "Organisationsentwicklung". Allerdings kann OE nicht als klassische GWA bezeichnet werden, denn die meisten OE-Theorien lassen die Reflektion der Abhängigkeitsverhältnisse in einer Organisation sowie des unterschiedlichen Zugangs der aktuellen und potentiellen Organisationsmitglieder zu den Machtquellen einer Organisation vermissen. OE geht auch nicht von der Prämisse gegenseitiger Unterstützung und Hilfe aus, wie sie für die klassische GWA gilt. Es gibt allerdings neuere Entwicklungen von OE im Hinblick auf diejenigen Organisationen, die sich vermehrt der "Basis" oder/und sozialen Bewegungen zuwenden wollen (Lakey, Napier & Robinson 1995).

3.5 Theorie und Praxis in revolutionären Settings - Mao Zedongs Essay "On Practice" (1968)

Mao Zedong forderte mit Entschiedenheit, dass Praxis mit den Gesetzmässigkeiten der externen Welt synchronisiert werden müsse. Und diese Gesetzmässigkeiten betrafen die materielle Produktion, den Klassenkonflikt sowie das wissenschaftliche Experiment. Mao wollte jede Form von Dogmatismus und Empirizismus in bezug auf den revolutionären Klassenkampf vermeiden. Ihm zufolge war der Prozess gegenseitiger Anpassung zwischen Theorie und Praxis nie zu Ende, aber auch historisch, kulturell und situationsspezifisch. - Die maoistischen Kommunen können als modernisierte Versionen früher, freiwillig zusammengeschlossener Gemeinschaften betrachtet werden.

3.6 Volksbildung und "Conscientization" - Paolo Freire

Paolo Freire hat eine Methodologie der Bewusstseinsbildung mit den Landlosen von Nordbrasilien entwickelt. Sie versucht magische und fatalistisch-naive Weltinterpretationen durch kritisches, kognitiv-rationales Hinterfragen von sogenannten Selbstverständlichkeiten zu ersetzen. Seine Nachfolger sahen Bewusstseinsbildung als Voraussetzung für die Organisation politischer Aktivitäten. Daraus entstanden soziale Bewegungen von Frauen, Jugendlichen, MenschenrechtsaktivistInnen.

3.7 Befreiungstheologie und Option für die Armen - Gutierrez 1973, Bonino 1973, Tamez 1982

Diese Theologie gründet auf folgenden Vorstellungen: Die Welt muss aus der Sicht der Armen interpretiert werden. Wissen und Bewusstsein über die gesellschaftliche Lage genügen nicht; es braucht die Schaffung von materiellen und kulturellen Bedingungen zur Befreiung der Armen. Die Armen müssen als handelnde Subjekte und nicht mehr als Empfänger von milden Gaben betrachtet werden. Die Sicht der Armen ist in bezug auf die Sicht von Wissenschaft und Technologie prioritär. Diese Perspektive führte zu vielen "Oral History"-Forschungsprojekten.

3.8 Ansätze zur Neukonzeption des Entwicklungsexperten

Diese Neukonzeption entstand aufgrund der Probleme alten, kolonisierenden, unsensiblen Expertentums, das keine Rücksicht auf die Belange der Menschen und ihres sozialen und kulturellen Kontextes nimmt. Es geht um " ... a 'development expert' who can be open and listen thoughtfully to others; and who can cut loose from the universalizing theories, conceptual frameworks (dominated by modernist, binary, and patriarchal thought structures of Western culture), and rational discourses on basic needs to allow different voices and experiences to be heard; and who will design policies and practices based on the concrete, spatial, environmental, and cultural contexts in which people live (Esteva, 1987; Escobar, 1992; Alatas, 1993; Parpart, 1995)." (p. 39).

Die Auswahl der ideellen und theoretischen Traditionen der GWA mögen selektiv und unvollständig sein, doch stehen sie - verallgemeinernd betrachtet:

  • erstens in der Tradition des "geplanten Wandels von oben" mittels gesellschaftlicher und institutioneller Träger und eingesetzter wissenschaftlicher ExpertInnen und PlanerInnen;
  • zweitens in der Tradition der "sozialen Mobilisierung von unten", zusammen mit GW-ArbeiterInnen, die sich als (professionelle) BefähigerInnen und MitstrukturierInnen von Organisationskompetenz verstehen und
  • drittens in der Tradition "sozialen Lernens", die professionelle Praktiker als PartnerInnen der Mitglieder von Gemeinwesengruppen definiert. (S. 40)

Aus meiner Sicht ist der Streit über den "richtigen Ansatz" durch die Fragen zu ersetzen: Unter welchen (Rahmen)Bedingungen für welche Ausgangssituation bzw. welche Sozialen Probleme eignet sich welcher theoretische Zugang und welcher Ansatz am besten? Müssen sie eventuell kombiniert werden? Und weiterführend: Wie lassen sich produktive Vernetzungen unter den alten und neuen Akteuren auf der sozialen Mikro-, Meso- und Makroebene herstellen, welche die Herausforderungen einer sich bildenden Weltgesellschaft an die Soziale Arbeit lokal, national und international ernstnehmen? Dies könnten denn auch wichtige Fragen sein, mit welchen sich ein Arbeitskreis zu befassen hätte.

Und damit wäre ich beim Anlass dieser Tagung und den möglichen Zielen des Arbeitskeises.


Mögliche Ziele eines Arbeitskreises "Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen"

Da es sich um einen Arbeitskreis im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit handelt, stelle ich mir folgendes vor:

  • ein Forum für die Entwicklung eines allgemeinen disziplinären und handlungstheoretischen Bezugsrahmens, in welchem ganz verschiedene GWA-Ansätze Platz haben und ausdiskutiert werden können;
  • ein Forum, in dem man anhand von Projektbeispielen das methodische Vorgehen darlegt und kritisch reflektiert;
  • ein Forum, in dem man auch relevante wissenschaftliche Forschungsergebnisse zusammenträgt;
  • ein Forum, in dem versucht wird, zu klären, was GWA im Rahmen der Sozialen Arbeit soll und will (vgl. z.B. Montreal-Definition);
  • ein Forum, in dem man die Frage verfolgt, wie sich GWA besser in die Grundausbildungen und die Weiterbildungsangebote der Sozialen Arbeit integrieren lässt - also eine Auseinandersetzung über Inhalte, Kompetenzen, Praxis- und Lernerfahrungen.

Was ich hingegen vermeiden möchte, sind Debatten über Abgrenzungsfragen zur Sozialen Arbeit oder zwischen den verschiedenen Ansätzen. Zumindest müsste man zu klären versuchen, wo es um reale und wo um interessenpolitisch konstruierte Unterschiede geht. Um Scheindebatten vorzubeugen habe ich denn auch die breite Palette von Ansätzen im internationalen Bereich eingebracht. Sie sollte zeigen, was alles unter dem Titel GWA oder Community Development (CD) Platz hat und sich sinnvoll ergänzen könnte.
Der Arbeitskreis soll aber auch keineswegs Bestrebungen für Netzwerke zur bundesweiten oder regionalen Förderung von GWA-Aktivitäten konkurrenzieren. So bin ich denn gespannt, wie es weitergeht.